Das Leben in die eigene Hand nehmen – Teil 4: Muster und Gewohnheiten
Das Leben in der Hand haben bedeutet, das zu tun, was ich tun möchte – was ich wirklich möchte. Tun Sie das schon? Oder ertappen Sie sich dabei, dass Sie „ja“ sagen, obwohl sie „nein“ meinen, dass Sie dem Außen nachgeben, z.B. „um des lieben Friedens willen“ oder sich auf einmal fragen „Was mache ich hier eigentlich??! Das wollte ich doch gar nicht??!“.
In dieser Artikelserie geht es darum zu verstehen, warum ich mir das Leben aus der Hand nehmen lasse. Wenn ich die Ursachen dafür klar sehe, ist dies der erste Schritt, das Steuer wieder in die Hand zurückzubekommen. Hier können Sie die Serie von Anfang an lesen. Im letzten Artikel ging es um erlittene Verletzungen.
Heute ist eine weitere beliebte Falle das Thema: Muster und Gewohnheiten.
Muster und Gewohnheiten sind an sich nichts Schlechtes. Sie sind sogar essentiell notwendig, um in dieser Welt funktionieren zu können. Wenn wir als Kind auf die Welt kommen, hören wir ein breiteres Spektrum an Lauten, als ein Erwachsener. Wir haben das Potential, alle Sprachen zu verstehen. Je länger wir unserer Muttersprache ausgesetzt sind, desto eingeschränkter wird unsere Wahrnehmung in Bezug auf die Laute unserer Sprache. Als Deutsche nehmen wir zum Beispiel nach einiger Zeit alles, was ungefähr wie ein „A“ klingt als ein „A“ wahr. Babies hingegen hören einen A-ähnlichen Laut als A-ähnlichen Laut. Und wenn sie in einer Sprachumgebung aufwachsen, die mehr Vokale hat als das Deutsche, werden sie eine bessere Unterscheidungsfähigkeit bezüglich dieser Vokale haben. Für einen Deutschen hören sich bestimmte Vokale einer fremden Sprache gleich an.
Das ist sinnvoll. Auf diese Weise lernt mein Gehirn, meine eigene Sprache besonders gut zu verstehen. Ein Baby „sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht“. Es hat noch keine Kategorie für „Wald“. Als Erwachsene übersehen wir Dinge, weil wir nicht mehr „direkt“ wahrnehmen. Unser Gehirn beliefert unser Wahrnehmungssystem mit Informationen darüber, welche Kategorien für uns wichtig sind. Wir filtern beständig die Massen an Daten, die auf unsere Sinnesorgane treffen. Wir stülpen diesen Daten unser gelerntes Kategoriensystem über. Wenn wir das nicht täten, könnten wir kaum sinnvoll handeln. Wie jemand, der von Geburt an blind war und durch eine Operation sein Augenlicht erhält. Direkt nach der Operation kann er noch nicht sehen – obwohl seine Augen sehen können. Zuerst muss sein Gehirn lernen, Informationen sinnvoll zu gruppieren.
All dies sind Muster oder Gewohnheiten. Alles, was ich sehr oft erfahren oder getan habe, gräbt sich in mein Gehirn ein (buchstäblich). Die Vokale unserer Sprache, Formen und Farben, Bewegungsmuster wie Radfahren oder das 10-Finger-Tipp-System, soziale Muster: Wie läuft eine Begrüßung ab, wie verhalten wir uns bei Tisch, wie auf einer Party? Tagesabläufe wie aufstehen, waschen, Zähne putzen, Frühstück, ins Büro fahren, zuerst mal in die Mail gucken usw.
All dies macht unser Leben schneller und leichter. Muster sind tief in unserem Gehirn verankert, wir haben sie 1000mal durchgeführt und jetzt können wir sie im Schlaf durchführen. Diese Vereinfachung ist notwendig. Aber sie birgt eine verführerische Falle. Weil ich Muster und Gewohnheiten „im Schlaf“ beherrsche, kann ich mein halbes Leben in ebendiesem Schlaf verbringen. Wenn ich nicht aufpasse und mich regelmäßig „aufwecke“ bewege ich mich wie ein Schlafwandler durch meinen Tag und hake wie ein Roboter eine Gewohnheit nach der anderen ab.
Beobachten Sie sich einmal einen Tag lang bewusst. Warum mache ich dies gerade? Bei 80% aller Tätigkeiten würde ich wetten, dass die Antwort lautet: Weil ich es immer so mache. Das ist wunderbar, wenn Sie dies auch wirklich möchten. Leider ist das aber oft nicht der Fall. Die Frage: „Möchte ich das wirklich?“ erfordert Bewusstheit und ein bisschen mehr Energie als das bequeme „Mitschwimmen“ mit meinen Gewohnheiten. Wenn ich nicht aktiv übe, immer wieder innezuhalten und mich zu fragen: „Möchte ich das wirklich?“ (bewusst zu werden), lande ich automatisch im Gewohnheitstrott. Ganz einfach weil mein Gehirn so gebaut ist, wie es gebaut ist.
Manche Gewohnheiten und Muster sind nicht nur durch eine große Wiederholungszahl in uns verankert. Sie wurden uns vom Außen antrainiert, oft mit der Androhung von negativen Konsequenzen. „Putz Dir die Zähne, sonst tut es beim Zahnart weh“. „Wasch Dir die Hände, sonst schimpfe ich mir Dir“. „Sei höflich, sonst mag Dich der andere weniger“. „Iss Vitamine, sonst wirst Du krank“. „Sag immer „ja“ zu Deinem Chef, sonst verlierst Du Deinen Job.“ „Denke zuerst an die anderen, bevor Du an Dich denkst, sonst denken die anderen, dass Du egoistisch bist.“ „Lach nicht so laut, das wirkt vulgär.“
Und so weiter und so fort – ad infinitum. Wenn ich mich bei einer dieser Gewohnheiten ertappe, reicht das alleinige „wach werden“ nicht aus. Um der Gewohnheit zu trotzen, muss ich auch dem unangenehmen Gefühl trotzen, das aufkommt, wenn ich die Gewohnheit unterlasse. Viele dieser Gewohnheiten kommen aus der frühen Kindheit. Ich erinnere mich nicht mehr an die angedrohte negative Konsequenz. Ich empfinde nur noch ein vages Unwohlsein, wenn ich die Gewohnheit unterlasse. Neben dem „wach werden“ (Was mache ich hier? Möchte ich das?) brauche ich ein wenig Geduld (achtsames Hinsehen – immer wieder – ohne mich zu bewerten), bis ich besser verstehe, was vor sich geht und bis ich mich über das Unwohlsein hinwegsetzen kann. Dann kann ich irgendwann freier mit der Gewohnheit umgehen.
Es geht nicht darum, alle Muster und Gewohnheiten zu verteufeln. Sie sind wunderbar, um uns das Leben zu erleichtern. Einem Kind muss ich erstmal eine Million Gewohnheiten beibringen und es geht auch gar nicht anders als mit der Androhung von Konsequenzen. Ein Teil unseres Gehirns lernt nur auf diese Weise. Auch als Erwachsener muss ich mich anfangs auf diese Weise trainieren, wenn ich etwas erreichen will („Setz Dich hin und pauke – Du willst einen guten Abiturschnitt“). Erst später – durch das Einüben von Bewusstheit und liebevollem Umgang mit mir selbst – kann ich begreifen, wie ich mich motiviere, ohne mich zu kontrollieren.
Also: Nicht die Muster und Gewohnheiten verteufeln, sondern verstehen, was sie für mich tun. Der nächste Schritt ist das Verstehen, wann ich in einem Muster oder einer Gewohnheit bin – mir dessen bewusst zu werden. Wenn ich Muster und Gewohnheiten bewusst wahrnehme, dann kann ich aussteigen, wenn ich das Muster oder die Gewohnheit gerade nicht brauche. Möchte ich höflich sein und „ja“ sagen? Oder dient mir ein „nein“ hier besser? Bin ich wirklich egoistisch, wenn ich für mich entscheide? Will ich den lieben Frieden? Wenn ich ihn bewusst wähle, auch wenn ich etwas tue, was ich eigentlich nicht möchte, dann habe ich das Steuer in der Hand. Das Ziel ist das freie Wählen und Abwählen von Mustern und Gewohnheiten. Sie werden staunen, wieviel freie Zeit Sie plötzlich haben, wenn Sie dies eine Weile üben.
Hier geht es zu Teil 5 – Kulturelle Prägungen.
Tags:Achtsamkeitsübung, Handlungsfreiheit, Hintergrundinformationen
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