Das Leben in die eigene Hand nehmen – Teil 12: Schuld und Scham

In dieser Artikelserie (hier finden Sie Teil 1 und hier Teil 13) geht es darum, das eigene Leben nach den eigenen Wünschen zu gestalten und die Gründe, warum dies oft sehr schwer ist.

Einen der „Hauptgegner“ haben wir uns bis zum zwölften Teil aufgespart: Schuld und Scham. Es gibt wohl kaum Gefühle, die so effektiv darin sind, die eigene Kreativität, den Schwung und die Energie auszubremsen wie Schuld und Scham.

Scham ist pures Gift. In meinen Augen ist es das Gefühl, das die „Hauptschuld“ an sehr vielen Problemen und Schmerz im eigenen Leben trägt. „Schuld“ setze ich in Anführungszeichen – denn immer dann, wenn ich mich zu Schuldzuweisungen hinreißen lasse, stecke ich fest – es geht weder vor noch zurück.


Es hilft also nichts, auf der armen Scham herumzutrampeln (so wenig ich sie mag). Was hilft, ist aufmerksam und neutral zu betrachten, was hier los ist.

Scham tritt immer dann auf, wenn ich – absichtlich oder unabsichtlich – die gesellschaftlichen Regeln verletzte. In ihrer ursprünglichsten Form hat sie durchaus ihren Sinn. Sie warnt mich als Kind, wenn ich in Gefahr bin, das Wohlwollen der Gruppe zu verlieren. Und das brauche ich als Kind, um zu überleben. Leider wird Scham praktisch sofort von anderen benutzt, um mich zu kontrollieren.

Schämst Du Dich nicht?!!!! Wie kannst Du?!!! Sowas tut man nicht!!!

Die emotionale Ladung, die mir an dieser Stelle entgegenschlägt, ist beachtlich. Ich spüre die Scham meiner Eltern, die fürchten, ihr Kind könnte etwas tun, das zu sozialer Ächtung führt. Tief in uns drin ist diese schreckliche Angst, allein zu sein – ausgestoßen zu werden. Sie ist fast so groß wie die Angst vor dem Tod, denn früher war soziale Ächtung unter Umständen gleichbedeutend mit dem Tod.

Scham empfinden wir auch, wenn wir „sichtbar“ werden. Ein kleines Kind, das Schritt für Schritt zu einem Einzelwesen wird und die anfängliche Verschmelzung mit der Mutter überwindet, fängt an zu fremdeln und sich zu „schämen“. Ach Herrje – ich bin sichtbar. Ich beginne zu existieren – als wirkliches, eigenständiges Wesen. Das verunsichert.

Wenn diese Phase in einer idealen Gesellschaft stattfinden würde, in der niemand Angst hat, er selbst zu sein und durch das Verletzen von gesellschaftlichen Regeln in die Ächtung zu geraten, dann würde sich ein selbst-bewusstes Kind entwickeln, das sich für nichts schämt.

Und wenn es etwas Böses tut? Stiehlt, jemanden haut, emotional verletzt? Sollte es sich nicht schämen?

Natürlich nicht. Scham ist niemals angemessen. Wir erziehen damit, weil wir es nicht besser wissen. Wenn ein kleines Kind haut, einem anderen Kind etwas wegreißt oder unflätige Worte von sich gibt (was kleine Kinder mit Vergnügen tun, weil sie es wunderbar finden, eine so heftige Reaktion bei Erwachsenen hervorzurufen), dann muss ich nicht sagen: Schäm Dich! Das tut man nicht!

Ich kann auch sagen: Oh weh – guck mal – jetzt weint der kleine Klaus – das ist aber nicht so schön – wie wäre es, wenn wir ihm den Eimer nicht wegreißen, sondern wenn wir ihn bitten, den Eimer herzugeben? Und wenn mein Kind mich haut: Aua! Das hat weh getan. Ich möchte nicht, dass Du das tust (und zur Not die Hände sanft aber bestimmt festhalten). Das heißt: Darauf hinweisen, dass es Folgen hat, was das Kind tut. Diese Folgen bewerten oder freundlich und bestimmt sagen, was ich möchte oder nicht möchte. Und eine Alternative anbieten.

Die Nachricht ist: Hm – das ist keine so schöne Erfahrung. Wie wäre es, wenn wir es anders tun? Ohne die emotionale Ladung: FALSCH!!! SCHLECHT!!!

Schämen bedeutet letztlich eine Abwertung des Selbst. Ich bekomme das Gefühl, ich bin nicht richtig so wie ich bin. Natürlich gibt es Vereinbarungen, die wir brauchen, damit das Zusammenleben klappt und angenehm ist. Aber ein „Nein, so nicht“ und eine freundliche, aber bestimmte Konsequenz, wenn das „nein“ nicht beachtet wird, reichen durchaus, um ein Kind von einem sehr unsozialen Wesen (was es am Anfang ist – es kommt nun mal praktisch ohne alle sozialen Regeln zur Welt) in einen Menschen zu verwandeln, der mit anderen kompetent umgehen kann – ohne sich schämen zu müssen.

Selbst wenn ich mich daneben benehme – es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste. Nichts. Auch wenn ich jemanden umbringe. Warum? Wenn ich jemanden umbringe und mich schäme, dann werte ich mich ab. Ich bin aber nicht weniger wert als andere, wenn ich töte. Das mit der Abwertung hatten wir schon einmal – und es hat keine schönen Folgen (= Du gehörst zu dieser anderen Rasse/Religion/Volksgruppe und bist weniger wert – wenn Du weniger Wert bist, darf ich Dich schlechter behandeln oder gar töten). Wenn ich jemanden abwerte, darf ich ihn schlechter behandeln. Das ist aber niemals angemessen. Wir sind alle gleich viel wert, egal wieviel Mist wir bauen.

Wenn ich Mist baue, ist Bewusstheit gefragt und ev. das Gefühl der Trauer, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Dann haben sowohl der Verursacher als auch der Betroffene die Möglichkeit, das Geschehene konstruktiv zu verarbeiten und die Erfahrung Schritt für Schritt hinter sich zu lassen. Mit Scham und Schuld bleiben beide in einer Abwärtsspirale stecken, die zu immer noch mehr negativen Gefühlen und ev. negativen Taten führt.

Wenn Sie es nicht schaffen, im Umgang mit anderen auf den Scham-Kontroll-Mechanismus zu verzichten, dann bitte kritisieren Sie sich nicht selbst: Wir haben es als Kinder so oft erfahren und es ist eine so gebräuchliche Methode des Umgangs miteinander, dass wir es nicht von heute auf morgen lassen können (und nein, ich schaffe es bei meinem Kind auch nicht immer). Und wenn ich mich selbst kritisieren – was passiert dann? Genau: Ich fange an, mich zu schämen. Ich werte mich ab und raube mir Energie.

Was ich tun kann, ist anzufangen zu spüren, was Scham mit mir macht. Und die Entscheidung zu treffen (wenn ich denn möchte): Das fühlt sich nicht gut an. Das lassen wir jetzt. Ich muss mich wegen nichts abwerten, ich muss mich nicht schämen. Wenn ich „Mist baue“ reicht das bewusste Wahrnehmen, was geschehen ist und die Entscheidung: Möchte ich das nächstes Mal vielleicht anders machen? Wie gehe ich respektvoll mit mir und mit den anderen um? Was möchte ich jetzt tun?

Zum Beispiel: „Es tut mir leid, was passiert ist“ (offenes Dazu-Stehen – aber ohne sich selbst abzuwerten). Und dann eine Entscheidung, ob es etwas gibt, das ich tun möchte – für mich oder für den anderen, der ev. unter mir gelitten hat. Nicht in Gedanken auf mir herumhacken, in Sack und Asche gehen und mich längere Zeit schämen. Wenn das Gefühl der Scham auftaucht, dann kann ich damit atmen, bis ich mich wieder besser fühle.

Stehen Sie dazu: Ab und zu bauen Sie Mist – wie jeder von uns. Kein Grund sich zu schämen. Je gerade mein Rücken auch nach einem unglücklichen Vorfall ist, desto positiver werden die Folgen für alle Beteiligten sein.

Und wenn Sie sich schämen, weil Sie etwas getan haben, was andere nicht mögen? Was nicht wirklich Mist ist, sondern nur etwas, was bei anderen Mißfallen auslöst?

Dann – um Himmels Willen – schnappen Sie sich ihr Schamgefühl und atmen sie solange bewusst, bist es sich löst. Sie sind auf einen alten Kontroll-Mechanismus gestoßen. Möchte ich wirklich mein Leben so gestalten, dass niemand den Kopf schüttelt, den Mund verzieht oder – Gott behüte – sich voll Empörung abwendet? Wenn es Ihnen wichtig ist, was andere denken: Von mir aus – dann stehen Sie dazu. Aber bitte mit geradem Rücken. Nicht schämen, sondern bewusst entscheiden: Das möchte ich tun (warum auch immer).

Generell würde ich jedoch empfehlen, die Reaktionen von anderen nicht so wichtig zu nehmen. Stehe ich selbst dazu, was ich gemacht habe? Dann ist es in Ordnung! Es wird immer jemanden geben, der furchtbar findet, was ich tue oder wie ich mich verhalte. Ich kann gar nicht so handeln, dass alle es gut finden. Wichtig ist, dass ich selbst es gut finde. Dann wird es auch im Außen eine ganze Reihe von Menschen geben, die es positiv bewerten.

Und im Umgang mit anderen: Verzichten Sie darauf, jemandem ein schlechtes Gewissen zu machen. Äußern Sie Ihre Wünsche offen und akzeptieren Sie ein „nein“ (und diese beiden Sätze waren jetzt 1:1 eine Handlungsanweisung für die liebe Autorin – die die schlechte Angewohnheit hat, ihrem Mann ein schlechtes Gewissen zu machen).

Wenn wir uns das Schritt für Schritt beibringen, dann kommen wir zu einem sehr viel angenehmeren Umgang miteinander und ich wette, wir werden damit sogar einige sehr substantielle gesellschaftliche Probleme los.

Wie immer: Was ich schreibe, muss man nicht glauben. Aber Sie können es ausprobieren, um für sich selbst zu testen, ob es eine Option für Sie ist, die funktioniert. Wie fühlt es sich an, Scham Schritt für Schritt aus dem eigenen Leben zu entlassen? Wie fühlt es sich an, statt des Schuldkreislaufs im Kopf bewusst zu atmen und sich auf die Körperempfindungen zu konzentrieren? Ich bin der Boss – ich entscheide, was ich in meinem Leben haben möchte – und was nicht.

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