Das Leben in die eigene Hand nehmen – Teil 5: Kulturelle Prägungen

Das Leben in der Hand haben bedeutet, das zu tun, was ich tun möchte – was ich wirklich möchte. In vier Teilen haben wir uns bisher angesehen, was mich davon abhält (hier geht es zu Teil 1hier zu Teil 4: Muster und Gewohnheiten). Wenn ich mir bewusst mache, warum ich so oft Dinge tue, die eigentlich gar nicht meinen eigenen Wünschen entsprechen, bin ich einen großen Schritt weiter auf dem Weg, mein eigenes Leben wirklich zu gestalten.

Heute sehen wir uns das Thema „Kulturelle Prägungen“ an. Es ist eine weitere Form von „innerem Zaun“, der mich ganz unbewusst Dinge tun lässt, ohne dass ich mir bewusst mache: Möchte ich das? Wie ein braves Lamm folge ich dem vorgegebenen Weg. Für den Schäfer ist das sehr praktisch. Und man könnte meinen, es dient dem Wohl der ganzen Schafherde, wenn sich alle Schafe brav an den vorgegebenen Weg halten. Schließlich haben unzählige Schafherden vor ihnen geprüft, ob es sich um einen guten Weg handelt.

Ich behaupte, dass sowohl Hirte, als auch Herde davon profitieren würden, wenn alle Schafe ab und zu bewusst darüber nachdenken würden: Ist das wirklich ein so toller Weg für mich? Selbst wenn die Herde in alle Himmelsrichtungen davontrottet und Hund und Herrchen erstmal in Hektik und Panik verfallen – wenn alle gelernt haben, dass sich ein Schaf sehr gut um sich selbst kümmern kann, dann können wir uns über neuentdeckte Wiesen freuen, wo wir *endlich* die leckeren Kräuter finden, die wir schon so lange gesucht haben.

Im Klartext: Wenn mir der traditionelle Weg, dem ich unwillkürlich folge, weil ich unbewusst den Regeln meiner Kultur gehorche gut tut: Prima. Oft aber tut er mir nicht gut. Das gilt es erkennen zu lernen.

Die Wurzeln unserer kulturellen Prägungen sitzen tief. Wir geben sie seit Generationen ganz unbewusst an unsere Kinder weiter, bzw. nehmen sie von unseren Eltern auf. Was ist gut, was ist schlecht, wie benehme ich mich, so dass es allen dient, so dass ich nicht auffalle und ev. aus der Herde rausfliege, was ist moralisch richtig oder falsch. Bis wir erwachsen werden, verinnerlichen wir eine endlose Liste an Regeln. Alle waren zu einem bestimmten Zeitpunkt richtig und wichtig für unsere Gemeinschaft. Einige sind es immer noch oder zumindest unter bestimmten Umständen. Andere haben sich überholt, aber trotzdem handeln wir noch danach. Kulturelle Prägungen sind wie eine Art Massenhypnose. Im schlimmsten Fall führt uns so eine Prägung wie eine Herde Lemminge über eine Klippe.

Einige konkrete Beispiele: Mein kleiner Sohne (vier Jahre alt) umarmt und küsst mit großer Begeisterung alle Menschen, die er mag. Auch seine Freunde im Kindergarten. Mit drei Jahren fanden diese das alle noch ok. Jetzt, mit vier Jahren, reagieren einige Jungs entsetzt. Ein Bussi von einem Jungen?! Igitt. Bääääh.

Für französische Männer kein Problem, für deutsche Männer schon. Als erwachsener deutscher Mann muss ich körperlich viel größeren Abstand zu anderen Männern halten als in anderen Kulturen (ok ok – außer im Fußball). Versuchen Sie einmal, sich darüber hinwegzusetzen. Das ist fast unmöglich – Ihr Gehirn wird sich schlicht weigern, die Anweisung auszuführen. Das macht man nicht!!! „Das macht man nicht“-Gesetze in unserem Gehirn wirken fast so zuverlässig wie Naturgesetze. Selbst die Information, dass Küssen die Lebenserwartung erhöht (Franzosen leben tatsächlich länger als Deutsche) wird nichts daran ändern. Zu küssen kann ma ja geteilter Meinung sein. Aber wäre es nicht schön, sich frei entscheiden zu können – statt etwas tun zu müssen? Weil man das eben so tut?

Wie wäre es, wenn Sie Ihrer Freundin, wenn Sie sie das nächste Mal sehen, freudestrahlend verkünden: „Hey – Du hast zugenommen! Toll!“. In Afrika kann das höflich sein – bei uns erstarrt man als Mama vor Entsetzen, wenn das eigene Kind unschuldig und sehr laut in der S-Bahn über die „dicke Frau da vorne“ redet. „Du bist dick“ ist im Kindergarten ein Schimpfwort – selbst für Mädchen, die bei der U-Untersuchung vom Arzt gesagt bekommen, dass sie ruhig ein bisschen mehr essen könnten. Wer in unserer Gesellschaft ein unbelastetes Verhältnis zu seinem Gewicht oder zum Essen hat, ist entweder erleuchtet – oder aus einer anderen Kultur – oder wirklich eine große Ausnahme.

Sobald ich morgens aufstehe, sorgt mein unbewusstes inneres Regelsystem dafür, dass ich mich so verhalte, dass ich gut dazupasse. Zähneputzen (Mundgeruch – was für ein Horror), das richtige Anziehen für mein heutiges Vorhaben (tauchen Sie mal mit der falschen Kleidung im Büro auf – ich wette, Sie halten es nicht bis zum Ende Ihrer Arbeitszeit aus), wann ich Knoblauch essen darf und wann nicht (oder ob überhaupt), wann und wieviel ich trinken darf (oer trinken muss), was ich über mich selbst verraten darf (schon mal aus Versehen zu viel gesagt? Wie groß war die Scham?), wie nah ich jemandem in der U-Bahn kommen darf (vorausgesetzt ich habe Wahlfreiheit, sprich es ist nicht gerade Wiesn-Zeit – wobei mir einfällt – es gibt sogar Regeln, wo ich hink… ähm, das führen wir jetzt nicht aus), wie ich die Menschen begrüße, denen ich begegne (die erste Begegnung mit dem Vermieter verpatzt? Mein Beileid), wann ich lächle oder lache (den ganzen Abend in Gesellschaft ernst schauen? Da kommt sicher eine Nachfrage, ob es mir auch gut geht?) und wann auf gar keinen Fall (zum falschen Zeitpunkt lächeln oder lachen wird meist sehr hart bestraft), wann ich spreche und wann nicht (wer hat die Regel erfunden, dass wir alle im Aufzug schweigen und die Wand anstarren?), wo ich stehe, gehe oder sitze (schonmal die Sitzordnung bei einer Hochzeit ausgeknobelt und nicht wahnsinnig geworden?), wann und wie lange ich jemandem in die Augen sehe (Sie erinnern sich sicher, wenn Sie hier einmal eine Regel verletzt haben), was ich esse (mein Sohn ist manchmal Weißwurst mit Ketchup – mir dreht es regelmäßig den Magen um – warum eigentlich?!) und so weiter und so fort – ad infinitum.

Ja – viele dieser Regeln machen mir das Leben im Alltag einfacher. Aber das unbewusste Ausführen all dieser Regeln führt mich regelmäßig in die Falle. Immer wieder tue ich ganz automatisch Dinge, die mir nicht gut tun. Wenn ich nicht sehr bewusst und aktiv eine gegen die Regel vorgehe, lande ich in einem Automatismus. Ich empfinde *wirklich* körperliches Unwohlsein, wenn jemand Weißwurst mit Ketchup isst. Und dabei bin ich noch nicht einmal in Bayern geboren. Im Grunde ist es albern – aber so funktioniert unser Gehirn. Wenn eine Regel mit genug Nachdruck eingespeichert wird, dann werde ich ihr Gefangener und muss mich erst mit viel Geduld und Nachsicht für mich selbst befreien, sobald ich erkannt habe, dass die Regel mir nicht gut tut.

Meine Einladung: Achten Sie einen Tag lang auf die kleinen, alltäglichen Handlungen. Warum tue ich das? Warum stehe ich ausgerechnet hier? Warum sage ich etwas? Warum esse ich dies hier? Weil ich es wirklich möchte? Oder weil ich einer inneren Vorschrift folge? Tut mir das gut? Welcher dieser vielen kleinen und großen kulturellen Regeln kann ich mißachten, ohne mich schlecht zu fühlen? Welche kulturellen Regeln kann ich auf keinen Fall brechen – nicht einmal wenn ich es wollte (es gibt tatsächlich Situationen, in denen die eigenen Muskeln die Kooperation versagen oder sogar eine Ohnmacht droht, wenn ich kulturelle Regeln verletzen möchte).

Es ist sehr heilsam, sich anzugewöhnen, ab und zu innezuhalten und sich zu fragen: „Was mache ich hier eigentlich?!“. Wenn ich etwas entdecke, das mir nicht gut tut, kann ich es ändern. Manchmal ist eine Zeit lang systematisches Training notwendig, aber es ist *immer* möglich, eine Prägung aufzuheben. Prägungen entstehen durch einen Lernprozess. Sobald mir bewusst wird, dass ich solch einem „Gesetz“ folge, kann ich es ver-lernen. Alles, was mir nicht gut tut, tut letztlich auch der Gemeinschaft nicht gut. Bewusste Schafe sind glücklichere Schafe. Und Schäferhunde haben sicher auch ohne Herde ganz viel Spaß.

Wenn Sie sich fragen, wie Sie diesen Artikel Ihrem Kind nahebringen können (schließlich ist das die Zeit, in der wir die meisten kulturellen Prägungen „einsammeln“), dann empfehle ich den aktuellen Biene Maja Kinofilm – hier geht es genau um dieses Thema.

In diesem Sinne: Viel Freude beim Spielen mit den inneren Gesetzen. Und ich nehme mir ganz fest vor, mich beim Wiesn-Besuch *nicht* über die runterhängenden Hosenträger zu ärgern, die inzwischen offenbar Mode sind (ich bin wirklich versucht, den Jungs die Hose zu richten – wobei das natürlich auch meine leicht zwanghafte Persönlichkeitsstruktur sein kann und nicht unbedingt eine kulturelle Prägung ;-).

Hier geht es zum nächsten Teil – Familäre Prägungen.

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