Das Leben in die eigene Hand nehmen – Teil 3: Erlittene Verletzungen
In dieser Artikelserie geht es um die Frage, ob ich mein eigenes Leben in der Hand habe. Damit ist gemeint: Treffe ich selbst die Entscheidungen für mein Leben – Tag für Tag – Moment für Moment? Oder stecke ich oft in Mustern fest, folge Zielen und Motiven, die gar nicht wirklich von mir stammen, sondern aus vergangenen Erfahrungen, biologischen Einflüssen oder Einflüssen von außen?
Hier finden Sie den ersten Teil der Serie. In Teil 2 ging es um äußere Hindernisse. Heute geht es weiter mit dem Thema „erlittene Verletzungen“.
Erlittene Verletzungen sind einer der Hauptgründe, warum ich mein Leben oft nicht in der Hand habe. Mit erlittenen Verletzungen sind alle unangenehmen Erfahrungen gemeint, die Sie in Ihrem Leben gemacht haben. Das kann im schlimmsten Fall ein Trauma sein oder ein Schock und in einem leichten Fall eine weniger gravierende Erfahrung, die aber unangenehm genug war, um Spuren zu hinterlassen.
Was ist ein Schock? Damit sind alle Erfahrungen gemeint, die so unangenehm sind, dass sich in Ihnen „alles zusammenzieht“. Ein Schock ist emotional spürbar, sowie auch im ganzen Körper. Stellen Sie sich einen Autounfall vor, vielleicht einen, der nicht so schlimm ist. Ein anderes Auto streift sie, es gibt ein lautes, unangenehmes Geräusch – Sie erschrecken sich. Im ersten Moment fühlt es sich so an, als würde sich in Ihrem Inneren alles zusammenziehen. Sie halten den Atem an, Ihre Muskeln verkrampfen sich, die Wahrnehmung verändert sich eventuell zu einer Art Zeitlupe.
Dieses Muster ist von der Natur eingerichtet, um Ihnen beim Überleben zu helfen. Im Moment des „Zusammenziehens“ packt Ihr emotionales System alle Gefühle zusammen und räumt sie erstmal irgendwohin, wo Sie sie nicht spüren müssen. Bei einem Schock sind die Gefühle sehr stark – unter Umständen so stark, dass Sie überwältigt wären und nicht handeln könnten, wenn Sie Ihre Gefühle in Ihrer ganzen Stärke spüren würden. Und Handeln müssen Sie in solchen Situationen oft – um überleben zu können oder zumindest noch Schlimmeres zu vermeiden. Also schützen Sie sich, indem Sie Ihre Gefühle „einfrieren“ und verdrängen. Nach der ersten Schrecksekunde kann man meistens wieder handeln. Oft wie in einer Art Automatik-Modus, ohne genau nachzudenken oder zu planen.
Wenn wir nach dem Schock keine Unterstützung bekommen, dann bleibt der „eingefrorene“ Zustand bestehen. Wir brauchen medizinische Hilfe, damit unser Körper wieder normal funktionieren kann. Aber auch unsere Gefühle brauchen Unterstützung, denn sie stecken immer noch fest. Sie kreisen um sich selbst und sind oft unsichtbar für uns. Dieses Feststecken oder um sich selbst kreisen kann uns später Probleme bereiten. Zum Beispiel könnte es sein, dass wir Unbehagen oder sogar Angst spüren, wenn wir Auto fahren. Oder wir entwickeln Nacken- oder Kopfschmerzen, weil unsere Muskeln oft verspannen. Oder wir schlafen schlechter als vorher.
Noch einmal zusammengefasst: Ein Schock ist eine unangenehme Erfahrung, bei der sich in mir alles unwillkürlich zusammenkrampft. Es ist ein Überlebensmechanismus. Wenn der Schock später nicht behandelt wird, bleibt in mir eine Art „Knoten“: Ein Teil meiner Gefühle und meiner Erinnerung – ein Teil meiner Selbst – ist eingefroren. Und dieser Teil kann mir Probleme bereiten – emotionale oder körperliche.
Es kann sein, dass ich in bestimmten Situationen mein Leben nicht mehr völlig in der Hand habe. Ich fahre ungern selber Auto. Ich entwickele körperliche Symptome, die mich einschränken. Ich reagiere vielleicht in manchen Situationen aggressiv, ohne zu wissen, warum.
Ein Teil meiner Selbst ist unsichtbar geworden. Wie in kleiner Kobold verursacht er alle möglichen Unannehmlichkeiten. Oft ist mir nicht bewusst, wo die Handlungsimpulse herkommen, die mit diesem speziellen „Knoten“ zusammenhängen, denn der ursprüngliche Überlebensimpuls beinhaltet das Vergessen der unangenehmen Gefühle. Ich schütze mich – aber ich nehme dabei in Kauf, einen Teil von mir zu „verlieren“.
Ein Trauma ist ein starker Schock. Zum Beispiel ein wirklich schlimmer Autounfall. Der Überlebensmechanismus ist genau derselbe: Alles in mir zieht sich zusammen. Die überwältigenden Gefühle werden abgespalten. Sie sind nicht weg, aber ich nehme sie nicht – oder nicht mehr so deutlich war. Eventuell tauchen sie später unwillkürlich wieder auf. Unangenehme Bilder oder Gefühle kommen ungebeten wieder an die Oberfläche und wiederholen sich wie eine hängen gebliebene Schallplatte. Die Folgen eines Traumas sind die gleichen wie bei einem Schock, nur der Schweregrad ist größer. Ein Teil meiner Selbst ist abgespalten. Er ist nicht völlig weg, er bereitet mir Probleme, denn er „funktioniert“ nicht mehr so gut wie vorher – er ist verletzt, steckt in einer Schleife, fühlt sich oft hilflos und hat Angst. Unbehandelt schränkt er mich in meiner Handlungsfreiheit ein und raubt mir Lebensfreude. Traumen können dazu führen, dass mein Leben sich grau und freudlos anfühlt. Mit den unangenehmen Gefühlen ist immer auch Lebensfreude und Energie gebunden. In einigen Situationen entscheide ich nicht mehr frei, sondern handele getrieben, wie von etwas anderem gesteuert (einer abgespaltenen Erfahrung) oder habe Ängste, die mich in meiner Handlungsfreiheit einschränken.
Schock und Trauma sind die starke Form von erlittenen Verletzungen. Sie erzeugen große abgespaltene Anteile meiner Selbst, die großen Einfluß auf mein Leben haben. Jedoch kann jede unangenehme Erfahrung den oben beschriebenen Überlebensmechanismus auslösen. Sie sind in der Arbeit und ein Kollege schnauzt Sie an oder macht eine sehr unfreundliche Bemerkung. Sie ärgern sich oder sind verletzt – und unwillkürlich schieben Sie das unangenehme Gefühl weg. Sie verdrängen und vergessen es, unterstützt von Ihrem Überlebensmechanismus. Das Gefühl ist jedoch nicht weg. Sie kommen abends nach Hause und haben schlechte Laune. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr, warum. Vielleicht wissen Sie warum – können die schlechte Laune aber trotzdem nicht abschalten. Sie sind in Ihrer Handlungsfreiheit einschränkt. Solche kleinen, alltäglichen Unannehmlichkeiten lösen sich oft nach ein paar Stunden oder Tagen von selbst auf. Der „Gefühlsknoten“ taut sozusagen wieder auf, die Verdrängung löst sich von selbst. Wenn sich genug Kleinigkeiten ansammeln, können jedoch auch kleinere unangenehme Erfahrungen bleiben und Sie dauerhaft begleiten. Sie fühlen sich in der Arbeit nicht mehr wohl. Oder Ihnen rutscht selber ab und zu eine unschöne Bemerkung gegenüber einem Kollgeben heraus – ganz unwillkürlich, ohne dass Sie es wirklich wollten.
Das Wissen, dass es diesen Mechanismus gibt, ist ein erster Schritt zurück in die Freiheit. Wann immer Sie eines der folgenden Symptome spüren:
- Ich tue etwas, ohne es wirklich zu wollen oder bewusst zu entscheiden
- Ich bin verunsichert und weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll
- Ich habe Ängste oder fühle mich unwohl und weiß nicht, wo es herkommt
- Ein Teil meiner Muskeln ist verkrampft, oft in ähnlichen Situationen
- Meine Gedanken kreisen und ich kann das nicht abstellen
- Ich bin unruhig und weiß nicht, wo es herkommt
- Ich habe ein unangenehmes Gefühl im Bauch und weiß nicht, wo es herkommt
- Ich scheine in gewissen Situationen wie blockiert zu sein – ich bin nicht so effektiv, so kreativ oder so geschickt wie sonst
- Ich habe Momente oder Tage, an denen ich down bin – ohne äußeren Grund
- Mir rutschen Worte heraus, die ich nicht sagen wollte
- Ich habe eine Gewohnheit, die ich ändern möchte und schaffe das nicht
- Ich mache immer wieder den gleichen Fehler
- Ich vergesse bestimmte Dinge immer wieder
- In bestimmten Situationen bekomme ich Herzklopfen, ohne zu wissen warum
- Ich möchte etwas tun – und kann mich nicht dazu überwinden
Diese Liste ist nicht vollständig – Sie soll Ihnen einen Eindruck geben von möglichen Folgen erlittener Verletzungen. Wann immer sie etwas in dieser Art spüren, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie gerade den Effekt einer erlittenen Verletzung spüren. An dieser Stelle, gibt es einen Teil von Ihnen selbst, der aufgrund dieser Verletzung abgespalten ist – feststeckt und nicht gesund ist und nicht frei handeln kann.
Das bewusste Erkennen: Aha! Hier könnte es eine erlittene Verletzung gegeben haben! Das ist Der Ausgangspunkt für das Lösen der Probleme. Die nächsten Schritte beinhalten bewusstes Spüren (Achtsamkeit) und das Annehmen dessen, was Sie spüren. Es erfordert Übung und vor allem bei Schocks und Traumata werden Sie vermutlich Anleitung benötigen. Aber für den Anfang können Sie selbst sehr viel für sich tun, wenn Sie sich – sobald Sie merken, dass „etwas nicht stimmt“ – bewusst machen, dass es sich hier um eine erlittene Verletzung gehandelt haben könnte.
Im nächsten Teil geht es weiter mit dem Thema „Muster und Gewohnheiten„.
Wenn Sie das Auflösen erlittener Verletzungen mit Anleitung üben möchten, dann eignet sich das VHS Seminar: Achtsamkeit und Annehmen – Umgang mit heftigen Gefühlen und Stress, sowie die Atemgruppe und auch das Praxisseminar Atmen – Spüren – Erkennen: Belastungen durch Achtsamkeit lösen. Wenn Sie alleine daran arbeiten möchten, dann empfehle ich regelmäßiges bewusstes Atmen. Das Atmen löst viele der inneren Knoten – auch ohne, dass Sie genau verstehen müssen, wie und warum. Folgen Sie der Anleitung und beobachten Sie, was passiert.
Tags:Handlungsfreiheit, Hintergrundinformationen
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