05 Jun2018
Written by Silke. Posted in Buchtipp, Leben gestalten, Newsletter, Selbstliebe
Zusammenfassung Vortrag „Das Leben in die eigene Hand nehmen“ – Teil 5
Dies ist der fünfte Teil einer Zusammenfassung des Vortrags am Gasteig: „Das Leben in die eigene Hand nehmen – Martin E. Seligman und das Konzept der erlernten Hilflosigkeit“. Im letzten Teil ging es um das Ablehnen von Verantwortung und dem Zuschieben von Schuld (Teil 1 finden Sie hier). Beides tun wir, um unangenehme Gefühle nicht spüren zu müssen. Es ist eine Art Ersatzbefriedigung: Ich erhalte mir ein gewisses inneres Gleichgewicht, aber drücke mich um die wirkliche Lösung des Problems, weil dies zu schmerzhaft wäre.
Ich hatte versprochen, dass wir uns ab diesem Teil endlich der Lösung zuwenden. Also: Wie befreie ich mich aus dem Schlamassel, den ich in Teil 1-4 beschriebe habe?
Wir haben uns ein Bild gemacht über Dinge und Erfahrungen, die die meisten von uns im alltäglichen Leben beobachten können. Und es ist ein beunruhigendes Bild: Wenn ich eine Verletzung erlebe oder ein traumatisches oder einfach nur ein unangenehmes Erlebnis habe, dann entsteht ein sich selbst verstärkender Negativ-Kreislauf. Es entwickelt sich ein Muster der Hilflosigkeit, weil ich dem ursprünglichen Erlebnis nicht ausweichen konnte. Ich verdränge einen Teil von mir selbst, um mich an die unangenehmen Gefühle nicht erinnern zu müssen. Das führt dazu, dass ich (phasenweise) keine Energie mehr aus mir selbst schöpfen kann, es entsteht innere Leere. Um diese innere Leere zu füllen, suche ich im Außen. Dinge, die mich kurz trösten oder die mir einen kurzen Energieschub geben, der mich aber nicht nachhaltig mit Freude erfüllt und die anschließend ein Tief haben, d.h. die mir letztlich mehr rauben als sie mir kurzzeitig geben, nenne ich Ersatzbefriedigung. Typische Erstatzbefriedigungen sind (neben Essen, Einkaufen, Alkohol oder Fernsehen): Schuldgefühle, Drama und Machtspiele.
Der Negativ-Kreislauf ist eigentlich ein Mechanismus, mit dem ich mich schützen möchte. Die ursprünglichen unangenehmen Gefühle möchte ich nicht spüren müssen. Sie tun so weh, dass ich mich in das Muster des Opfers oder der Hilflosigkeit flüchte, um mich dem, was so schrecklich war, nicht stellen zu müssen. Daher verstärke ich den Kreislauf selbst immer wieder. Was anfangs eine Verletzung im Außen war, halte ich im zweiten Schritt selber aufrecht – als Schutz vor Schmerz und als überwältigend empfundenen Gefühlen.
Dazu kommt, dass wir uns mit dem Negativ-Kreislauf gegenseitig anstecken. Wenn ich mit der inneren Leere konfrontiert bin, muss ich sie irgendwie auffüllen. Wenn ich nicht auf die eigene Quelle zurückgreifen kann, weil sie für mich unsichtbar ist oder ein Schmerz dies blockiert, dann greife ich früher oder später zu Machtspielen. Ich manipuliere emotional, stehle anderen Energie oder werte jemanden ab. Jeder von uns greift ab und zu zu solchen Verhaltensweisen. Ich behaupte: Nicht weil wir böse sind. Sondern weil wir in manchen Situationen am Verhungern sind. Wir stecken – in Teilen unserer Persönlichkeit – in einem Selbst-Sabotage-Mechanismus fest. Und wenn wir uns so schlecht fühlen, dann greifen wir zu der einzigen Energiequelle, die verfügbar zu sein scheint: Ein anderer Mensch. Und dieser andere Mensch macht damit ebenso wieder eine schlechte Erfahrung – und wenn diese stark genug ist oder sich oft genug wiederholt – genau – dann entsteht bei ihm oder ihr ein neuer Negativ-Kreislauf.
Wie könnte die Lösung aussehen?
Wenn Sie diesen Newsletter regelmäßig lesen, dann ahnen oder wissen Sie bereits, wie wir uns aus dieser Abwärts-Spirale befreien können.
Schritt 1: Das bewusste Erkennen. „Aha – interessant – so ist das“
Schritt 2: Die innere Haltung des Annehmens. „Ich bin genau richtig so wie ich bin“
Bewusstheit (oder Achtsamkeit) bedeutet, dass ich sozusagen selbst aus mir heraustrete und mich selbst beobachte. Was fühle ich? Was spüre ich? Was geht hier vor? Ich kann wahrnehmen, dass ich ein Gefühl habe (oder mehrere oder keins). Ich tauche nicht in das Gefühl ein. Ich bewerte es nicht. Ich denke nicht darüber nach. Ich sehe mir nur an: Aha – interessant – so ist das.
Es ist ein innerer Zustand der Klarheit. Ich kann dieses inneren Zustand leicht herstellen. Aber wenn ich ungeübt bin, verliere ich ihn praktisch sofort wieder. Mein Alltags-Bewusstsein springt von Gewohnheit zu Gewohnheit und ist sich nur sehr selten bewusst. Ich bin im Denken, Bewerten und Befolgen von hoch gelernten Mustern. Was wirklich in mir vor sich geht, bekomme ich nur selten mit. Und wenn doch, dann wird es sofort bewertet.
Das bewusste Erkennen des Negativ-Kreislaufs (beobachten und spüren! Nicht denken und bewerten!) ist der erste Schritt der Auflösung des Musters. Und ja – der Vortrag und diese Artikel-Serie habe ich genau aus diesem Grund ins Leben gerufen: Um Sie beim bewussten Erkennen zu unterstützen.
Der zweite – und etwas schwierigere – Schritt ist die innere Haltung des Annehmens. Wenn ich in den Widerstand und die Ablehung gehe, dann stärke ich den Negativ-Kreislauf. „Oh Gott – wie furchtbar – was tue ich hier?! Das soll weg!!!“. Das ist eine ganz natürliche Reaktion. Aber in der Ablehnung stärke ich das Muster. Im Kern besteht das Muster aus einem Teil von mir, den ich wegschiebe. In der Ablehnung des gesamten Negativ-Kreislaufes schiebe ich diesen ungeliebten Teil schon wieder weg. Ich werte mich selbst ab. Abwertung – egal ob von außen oder von innen – schwächen mich – stärken das Muster der Hilflosigkeit – und befeuern die Abwärtsspirale.
Die Alternative heißt: Annehmen. Das heißt nicht, dass ich das ganz toll finden soll, was ich da sehe. Es heißt: Erst einmal neutral registrieren. Ja – das ist so. Ich betrachte es mir – ohne es wegzuschieben. Ohne es zu bewerten.
Die innere Haltung des Annehmens bedeutet auch: Mich selbst so anzunehmen wie ich bin. Das ist ziemlich schwer. Vermutlich ist es das allerschwerste, was ich in meinem Leben in Angriff nehmen kann. Aber es beinhaltet die Lösung.
Ich kann üben wahrzunehmen: Ich bin genau richtig so, wie ich bin. Alles an mir ist ok. Ich darf Fehler machen!
Diese beiden Schritte: Das bewusste Erkennen, was vor sich geht und das Annehmen von dem, was ist und letztlich das bedingungslose Annehmen von mir selbst – mit allen Anteilen, die ich nicht sehen und nicht wahrhaben möchte: Das befreit mich von der Abwärts-Spirale und führt mich zurück zu meiner endlos sprudelnden Quelle von Lebensfreude und Energie. Es heilt die alten Wunden und lässt nur eine Erinnerung zurück, die mir Weisheit schenkt, aber ohne mich im Leben einzuschränken oder Schmerz zu verursachen.
Noch einmal zur Wiederholung: Es geht um die Frage – bin ich in meinem Leben der Fahrer? Oder bin ich nur Beifahrer? Das Muster der „Erlernten Hilflosigkeit“ macht mich zum Beifahrer. Erlebte Verletzungen erzeugen einen Negativ-Kreislauf. Ich verstärke das Muster durch Selbst-Hypnose.
Durch achtsames Beobachten meiner Gefühle kann ich den Negativ-Kreislauf erspüren – auch wenn ein Teil von mir versucht, ihn vor mir unsichtbar zu machen (um mich zu schützen). Wenn Sie eins der folgenden vier Gefühle bei sich entdecken, dann stecken Sie vermutlich gerade im Negativ-Kreislauf:
– „Das möchte ich nicht spüren“ (Das weist auf einen abgeschnittenen Teil von Ihnen hin)
– „Ich kann das nicht“ (Das denkt der hilflose Teil von Ihnen – es ist die Opferrolle)
– „Ich bin down“ (Sie merken, dass Sie keine Energie aus sich selbst ziehen können)
– „Ich brauche etwas!“ (Und suchen eine Ersatzbefriedigung im Außen)
Mit vier ganz konkreten Maßnahmen können Sie dem Negativ-Kreislauf zu Leibe rücken:
1. Wie fühle ich mich gerade?
Üben Sie, achtsam zu beobachten, wie Sie sich gerade fühlen. Es ist nicht normal, sich häufig schlecht zu fühlen! Wenn Sie regelmäßig entdecken: Moment mal – das fühlt sich nicht gut an – was geht hier vor? – Könnte das ein Negativ-Kreislauf sein? Dann ist es Zeit, etwas für sich zu tun. Eine regelmäßige Achtsamkeits-Übung kann Ihnen helfen, mehr und mehr zu sehen und zu verstehen, was in Ihnen vor sich geht. Kleinere Knoten beginnen, sich zu lösen.
2. Sitze ich hinter dem Steuer?
Oder auch: Was um Himmels Willen tue ich hier??! Gewöhnen Sie sich an, ernsthaft nachzusehen, warum Sie etwas tun. Tun Sie das gerade für sich? Weil Sie es wirklich wollen? Weil es Ihrer Freude dient? Dem, was Sie im Leben wirklich tun möchten? Oder handeln Sie aus einem äußeren oder inneren Druck? Um ein unangenehmes Gefühl zu verhindern? Aus Gewohnheit? Weil Ihre Eltern, Ihre Familie, Ihre Kultur, Ihre Krankenkasse, Ihr Coach, Ihre Gemeinde, Ihre Katze (siehe auch weiter unten) oder Ihre Astrologe das so wollen?
Kann ich es vielleicht auch anders machen? Oder lassen – wenn es mir nicht gefällt?
Wir fragen uns viel zu selten, ob unsere Handlung wirklich die unsere ist.
3. Üben Sie: Ich bin genau richtig so wie ich bin!
Stärken Sie Ihre Selbst-Liebe. Es ist das einzige, was Sie Schritt für Schritt aus dem Negativ-Kreislauf herausführt. Den Kreislauf bewusst wahrnehmen ist der Anfang. Das Befreien aus den alten Mustern geht aber nur, wenn Sie lernen, in Ihrem Inneren auf stabilen Füßen zu stehen. Die alten Verletzungen haben Sie massiv verunsichert. Sie bekamen immer wieder gesagt oder gezeigt, dass sie falsch sind – nicht gut genug – und dass Sie an sich arbeiten müssen.
Hören Sie auf, an sich zu arbeiten. Sie sind schon genau richtig so, wenn Sie sind. Wenn Sie etwas tun, was Folgen hat, die Ihnen nicht gefallen (früher nannten Sie das einen „Fehler“), dann treffen Sie die Entscheidung: Das mache ich ab jetzt anders. Streichen Sie Selbst-Kritik und beginnen Sie, sich positiv zu coachen: Das habe ich gut gemacht. Das hat sich gut angefühlt, das mache ich ab jetzt immer so. Ooops – nicht so schön – das lassen wir. Tief durchatmen – und die Schuldgefühle loslassen.
Es gibt inzwischen viele Methoden und Angebote zum Thema Selbst-Mitgefühl. Wenn Sie sich mehr Freude wünschen, dann üben Sie das mit dem Sich-Selbst-Annehmen.
Es lässt sich wirklich trainieren! Es braucht ein bisschen mehr Geduld und Einsatz als „nur“ Achtsamkeit und Bewusstheit. Aber es wird sehr viel bewegen.
4. Ja – ich kann!
Trainieren Sie sich eine neue innere Haltung an: Ja – ich kann! Das ist keine Selbst-Überschätzung. Sie können *immer* etwas tun, um Ihre Situation zu verbessern. Sobald Sie denken: „Das kann ich nicht“ werden Sie hellhörig. Das ist ein Hinweis auf das Hilflosigkeits-Muster. Und Sie wissen jetzt: Es ist nicht die Wahrheit. Auch wenn ich noch nicht sehen kann, was ich tun kann – es gibt eine Lösung. Gehen Sie von jetzt an einfach davon aus: Es gibt eine Lösung. Dann werden Sie sich schneller finden. Wenn Sie etwas nicht selbst bewältigen können, dann werden Sie Hilfe bekommen. Wenn die Lösung noch nicht da ist, wird sie aus Ihrem Inneren auftauchen (eine Achtsamkeits-Technik hilft hier auch) – seien Sie ein bisschen achtsam, dann kommt das „Aha!“. Sagen Sie nicht: Das geht nicht. Sondern fragen Sie sich: Wie mache ich jetzt weiter? Üben Sie, sich selbst zu vertrauen. Sie werden staunen.
Wenn Sie sich intensiver damit beschäftigen möchten, aus Ihren Negativ-Kreisläufen auszusteigen und die innere Lebensfreude wieder freizulassen, dann kann folgendes helfen:
(Wenn es für ein Seminar gerade keinen Termin gibt, schreiben Sie mich an. Wir können dann gerne nach einem passenden Datum suchen.)
– Ich vergebe: Der radikale Abschied vom Opferdasein, Colin Tipping, Kampenhausen, 2004
– Eine regelmäßig Achtsamkeitstechnik. Ich empfehle insbesonders das bewusste Atmen (kostenfreie Einführungen hier) und „Metta“ – „Liebevolle Freundlichkeit“, eine Meditationstechnik aus der buddhistischen Tradition.
– Das Seminar „Leben ändern – Schritt für Schritt„. Es findet 2x im Jahr in meiner Praxis statt (auch als Webinar).
– Das anschließende Training „Leben ändern – Intensivkurs„. Ebenfalls 2x im Jahr (auch als Webinar).
– Die „Sexual Energies Schule„. In meinen Augen nach wie vor der schnellste Weg aus dem Negativ-Kreislauf hinaus.
– Die 10 Herzensschlüssel (mit Audio-CD): Ausgeglichen und gesund mit Körperzentrierter Herzensarbeit. Safi Nidiaye. (Blockaden lösen – Vorsicht: Es kann sich dabei viel bewegen).
– Herz öffnen statt Kopf zerbrechen: Der Weg zu Freiheit, Freude und Frieden. Safi Nidiaye (Oder andere Bücher von ihr – sie wirken deshalb so gut, weil sie aus dem Kopf heraus führen – wo der Negativ-Kreislauf wirkt – und ins Fühlen leiten. Der beste Weg zum Selbst).
– Das Wunder der Hingabe: Wie uns das innere JA glücklich macht. Ruediger Schache (die innere Haltung des Annehmens).
– Traumaheilung durch Radikale Erlaubnis: Mein Leben mit Trauma und meine Therapie der Radikalen Erlaubnis. Mike Hellwig (Verletzungen heilen durch Annehmen).
– Focusing – Der Stimme des Körpers folgen: Anleitungen und Übungen zur Selbsterfahrung. Ann Weiser Cornell (Methode zum Lösen von Blockaden, die auf Achtsamkeit und Annehmen beruht).
– Den Dämonen Nahrung geben: Buddhistische Techniken zur Konfliktlösung. Tsültrim Allione (Aus buddistischer Sicht – praktische Anleitung – ev. erst mit etwas Vorerfahrung, bei einem guten Körpergefühl und einem stabilen inneren sicheren Raum).
05 Jun2018
Written by Silke. Posted in Leben gestalten, Newsletter, Selbstliebe
Zusammenfassung Vortrag „Das Leben in die eigene Hand nehmen“ – Teil 4
Dies ist der vierte Teil einer Zusammenfassung des Vortrags am Gasteig: „Das Leben in die eigene Hand nehmen – Martin E. Seligman und das Konzept der erlernten Hilflosigkeit“. Im letzten Teil ging es um Drama und Schuld und Scham. (Hier finden Sie Teil 1). Hier nehmen wir uns das Thema „Verantwortung ablehnen“ vor. Und ich warne gleich am Anfang: Möchten Sie wirklich weiterlesen? Hier geht es nämlich definitiv aus der Komfort-Zone hinaus in den Bereich: Keine Ausreden mehr. Wenn Ihnen bewusst wird, worum es bei diesem Mechanismus geht, dann gibt es kein Verstecken mehr. Das ist ein bisschen unangenehm. Es ist aber auch einer der goldenen Schlüssel zu Freude und endlich dort ankommen, wo die innere Sehnsucht hinführt.
„Verantwortung ablehnen“ ist auch eine Ersatzbefriedung, wie in den vorherigen Teilen besprochen. Eine Ersatzbefriedigung ist etwas, das ich tue, das mir nur scheinbar einen kurzen Trost oder einen Energie-Schub gibt, mich aber in der Summe mehr kostet, als es mir nützt. Dinge, die ich tue, um von einem tiefer liegenden Schmerz abzulenken. Als erstes Beispiel haben wir Machtspiele besprochen. Dann Drama und Schuld und Scham.
Auch „Verantwortung ablehnen“ gehört in diese Kategorie. Es ist wichtig, dass Sie sich bewusst machen, dass all diese Ersatzbefriedigungen Ihnen dienen: Es ist wie ein Medikament, um den Schmerz zu betäuben. Sie haben sich diese Gewohnheit zugelegt, um sich zu helfen – meistens schon als Kind. Sie hatten zum Zeitpunkt, als Sie es das erste Mal ausprobiert haben, keine bessere Möglichkeit, um sich zu helfen. Es ist von großer Bedeutung für das Auflösen von Mustern, die mir nicht mehr dienen, mir klar zu machen: Sie haben einen Grund dafür, dass sie da sind. Sie helfen mir.
Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, sie loszulassen, dann machen Sie es im Bewusstsein: Das war bisher einer meiner Überlebensmechanismen. Ich werte mich nicht dafür ab, sondern treffe lediglich bewusst die Wahl: Diese Gewohnheit unterstützt mich nicht mehr wirklich. Ich beginne etwas Neues. Dieses achtsame und liebevolle Wechseln ist der einzige Weg, um Altes aufzulösen. Solange Sie sich verurteilen, so lange wird die alte Gewohnheit nicht gehen wollen. Es beginnt ein Kampf – und den gewinnt weder die alte Gewohheit, noch der neue Weg. Sie werden so lange zwischen den Stühlen sitzen, bis Sie sich selbst – und alle Ihre alten, scheinbar „schlechten“ Angewohnheiten – mit dem Respekt behandeln können, den Sie brauchen.
Was hat es mit „Verantwortung ablehnen“ auf sich und warum ist das eine Ersatzbefriedigung? Wenn mir etwas Unangenehmes oder gar Schlimmes passiert und ich dann auch noch feststelle, dass ich nichts tun kann, um es abzuwehren oder es besser zu machen (Hilflosigkeitserfahrung), dann wende ich die Überlebenstaktik an, mich klein zu machen. Ich lasse alles über mich ergehen und leiste keinen Widerstand mehr – das ist ein bisschen besser auszuhalten, als sich zu wehren und zu merken, dass ich nichts tun kann. Die Erfahrung der Hilflosigkeit ist so schlimm, dass ich lieber zu kämpfen aufhöre und passiv werde. Bei kleinen Kindern können wir eine ganz typische Reaktion beobachten: Mama: „Nein, Du darfst jetzt keine Schokolade haben, es gibt gleich Essen.“ – Kind: „Ich wollte eh keine Schokolade.“. Das Kind weiß, es hat keine Chance gegen die Mama. Es ist einfacher, so zu tun, als hätte es selbst die Entscheidung getroffen, gar keine Schokolade zu wollen, als die Schmach auszuhalten, es verboten zu bekommen.
Sich gegen eine Übermacht zu stemmen, ist außerordentlich unangenehm. Aufgeben und sich anpassen erzeugt die Illusion: Alles ist in Ordnung. Und wir brauchen diese Illusion, um nicht beständig den Schmerz zu spüren: Da ist etwas sehr sehr Unangenehmes, das ich nicht haben will und gegen das ich nichts ausrichten kann. Es entsteht das Opfermuster – „ich kann nichts tun“ – und ich probiere auch gar nicht mehr, etwas zu ändern. Dazu gehört das Muster, die Verantwortung abzugeben.
Wieviele Dinge in Ihrem Leben gibt es, die Sie gar nicht versuchen, weil ein mögliches Scheitern zu bedrohlich ist?
- „Ich kann nicht“
- „Entscheide Du das“
- „Hierfür gibt es keine Lösung“
- „Du bist Schuld“
Jedesmal, wenn ich einen dieser Sätze denke oder ausspreche, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich im „Verantwortung ablehnen“ Muster stecke und mich um einen zugrundeliegenden Schmerz drücke. „Ich kann das nicht“ trifft ab und zu tätsächlich zu. Aber Sie können den Unterschied spüren zwischen: „Oh weh – das kann ich nicht so gut – da hole ich mir wohl besser Hilfe.“ und „Ich kann das nicht. Das funktioniert nicht. Mann bin ich blöd.“ Fast alle von uns können sehr viel mehr, als wir uns zutrauen. Wenn Sie das nächste Mal auf etwas stoßen, bei dem Sie sich sagen: „Ich kann das nicht“, dann schauen Sie genauer hin. Spüren Sie ein heftiges Gefühl? Ev. Angst, einen starken Widerwillen, eine Leere im Kopf, Verwirrung, Wut, Frustration oder ähnliches? Und wenn Sie ein paarmal tief durchatmen und ganz ehrlich mit sich sind: Können Sie nicht – oder wollen Sie nicht? Weil das Scheitern oder das Ausprobieren mit einem dicken unangenehmen Gefühl besetzt ist?
Viele von uns blockieren beim Rechnen, beim Sprechen vor Publikum, bei technischen Geräten, bei handwerklichen Aufgaben, beim Kontaktaufnehmen mit anderen Menschen oder bei sportlichen Herausforderungen, weil wir als Kind oder Jugendlicher ausgelacht oder gedemütigt wurden. Spüren Sie nach, was in Ihnen vor sich geht, wenn Sie das Gefühl haben: „Das kann ich nicht“. Ich wette, in 80% der Fälle würden Sie einen akzeptablen Job hinlegen – wenn Sie sich überwinden könnten, diese furchtbare Gefühl des möglichen Scheiterns (Hilflosigkeitserfahrung) zu konfrontieren. Es ist nicht wichtig, gleich in allen Fällen zu handeln. Viel wichtiger ist erstmal das Wahrnehmen: Aha – hier bin ich blockiert – und ich kann ahnen, was da für ein Gefühl darunter liegt. Wenn Sie das konsequent tun, dann kommen Sie Schritt für Schritt zu: „Ich kann nicht“ – „Whoa – Moment – das ist nur eine Blockade“ – „Möchte ich es vielleicht probieren?“. Und schließlich einem neuen Handeln. Und das Schöne daran ist: Es ist nicht wichtig, ob ich einen guten Job hinlege oder nicht. Wichtig ist nur, dass ich die Freiheit habe zu handeln – wenn ich handeln möchte.
Wenn wir dem anderen die Entscheidung zuschieben, kann das Bequemlichkeit sein oder die tatsächliche Einsicht, dass die Wahl beim anderen besser aufgehoben ist. In vielen Fällen jedoch spielen wir „Beifahrer“ und überlassen dem anderen die Führungsrolle aus dem „Verantwortung ablehnen“ Muster heraus. Als Beifahrer kann ich nichts falsch machen. Wenn ich jemand anderem hinterherdackele, dann ist der andere Schuld. Ich mache alles richtig. Das ist eine große innere Erleichterung. Beobachten Sie sich: Wann geben Sie die Führungsrolle an jemand anderen ab? Ist das angemessen, d.h. dient Ihnen das in diesem Fall? Oder drücken Sie sich um die Entscheidung, um ein unangenehmes Gefühl nicht aushalten zu müssen?
Wenn Sie sich selbst ab und zu beim Hinterherdackeln ertappt haben, dann können Sie ev. mit größerem Verständnis nachvollziehen, warum es für manche Menschen Sinn macht, sich einer extremen Bewegung anzuschließen. Wäre es nicht schön, in diesem ganzen verwirrenden Alltag mit all den Herausforderungen und offenen Fragen, die irgendwie immer mehr und immer größer werden, jemanden zu haben, der tatsächlich Antworten hat? Der sicher weiß, was zu tun ist? Der mir dieses unangenehme innere Gefühl des „es könnte etwas Schlimmes passieren“ abnimmt? Der mir zeigt: Hier geht es lang und wenn Du das und das tust – dann wird alles gut? Niemand von uns ist frei von dem Drang, ab und zu jemand anderen führen zu lassen. Aber so lange ich nicht selbst wähle, so lange ich mich vor meinem inneren Schmerz verstecke, in dem ich jemand anderem mehr Macht, mehr Kompetenz oder mehr Weisheit zu schreibe, so lange werde ich ein Leben 2. Klasse haben.
„Hierfür gibt es keine Lösung“ ist auch ein gutes Warnsignal. Sobald Sie dies denken oder hören (von sich oder von anderen), wissen Sie: Hier ist das „Verantwortung ablehnen“ Muster am Werk. Natürlich gibt es eine Lösung. Die gibt es immer. Unter Umständen muss man eine Weile suchen und probieren. Unter Umständen muss man sich von etwas verabschieden, das man nicht loslassen möchte (Kuchen essen und behalten Dilemma). Unter Umständen muss man jemanden fragen oder man braucht Hilfe. Aber egal wie verfahren eine Situation ist – sie lässt sich ändern. Ich bin nie nie nie hilflos. Oder für die Skeptiker: Ich bin fast nie in einer völlig verfahrenen Situation und es ist *immer* besser, davon auszugehen: Es gibt eine Lösung, ich habe sie halt noch nicht gefunden. Weil ich mit dieser Einstellung mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Lösung finden werde. Sobald ich also zu dem Schluss komme „es gibt keine Lösung“ – habe ich aufgegeben. Habe ich mich dem Hilflosigkeits-Muster hingegeben. Der erste Schritt der Lösung ist immer: Aha! Ich bin blockiert. Das ist nur ein Muster. Das ist nicht mein ganzes Selbst. Nimm ein paar bewusste Atemzüge. Mache eine Pause. Realisiere, was hier vor sich geht. Und sobald Du wieder genug Energie hast: Suche weiter nach einer Lösung.
„Du bist Schuld“ ist auch eine beliebte Methode, um sich zu drücken. Der reife Erwachsene weiß: Alles, was geschieht, geschieht immer aus einem komplexen Zusammenspiel von Ereignissen, Handlungen und Entscheidungen *aller* beteiligter Personen. „Du bist Schuld“ ist eine wunderbare Vereinfachung. Das komplexe Geschehen (das sowieso niemand nachvollziehen kann) wird reduziert auf eine verstehbare Komponente: Person X ist Schuld. Was für eine Erleichterung. Ich war es nicht. Puh. Können Sie spüren, wie angenehmen das ist? Nichts falsch gemacht zu haben, keine Schuld zu haben? Sie können sich jedoch sicher sein, dass Sie – wenn Sie jemandem Schuld zuschieben – dabei sind, ein unangenehmes Gefühl wegzuschieben. Wir streiten uns. Natürlich bist Du Schuld. Wo ist mein Autoschlüssel? *Ich* lege ihn *immer* in den Schlüsselkorb. Ich bin zu spät – daran ist der MVV Schuld. Die Misere im Land liegt natürlich an unserer Regierungskoalition. Das Projekt kommt nicht voran, weil Kollege Y nicht mitzieht. Die Wohnung versinkt im Chaos, weil Du Dich nicht an unsere Vereinbarung gehalten hast. Usw. usf. Natürlich begegnet Ihnen täglich zahlreiches Ungemach, an dem andere mitwirken. Aber wenn ich ihnen die Schuld komplett zuschiebe? Was passiert dann? Genau – ich bin hilflos. Das Chaos in der Wohnung wird sich nie ändern. Mein Mann/meine Frau zieht ja nicht mit. Das Projekt wird nie vorankommen. Wir werden uns immer streiten (es fängt ja immer der andere an). Die Misere im Land wird sich nie ändern.
Aus dieser Falle herauszukommen, ist sehr sehr sehr (hängen Sie nach Belieben weitere „sehr“ an) schwer. Denn die Alternative heißt: Alles (alles!) was in meinem Leben passiert, wird von mir mitverursacht. Aua. Das mag sich niemand ansehen und Sie haben mein vollstes Verständnis, wenn Sie jetzt zu lesen aufhören und den Newsletter sofort abbestellen.
Gibt es nicht zahlreiche Beweise dafür, dass da draußen unachtsame und böse Menschen sind, die mir ein Bein stellen? Vielleicht nicht immer absichtlich. Und Verbrecher – sind die nicht wirklich Schuld?
Ja, ja – schon gut: Wenn mein Kind eine Regel bricht – z.B. vor dem Essen in seine Süßigkeiten Schublade greift – dann gibt es eine Konsequenz: Die Schublade bleibt jetzt einen Tag lang zu. Sonst lernt er/sie ja nicht, das Ding vor dem Essen zuzulassen, um sich den Appetit nicht zu verderben. Und wenn mich jemand anschreit, denn bitte ich ihn höflich, das zu lassen oder ich gehe (zumindest meistens – oft schreie ich zurück – auch wenn ein Teil von mir sagt: Ha ha – Spiel verloren ;).
Aber ist mein Kind jetzt „Schuld“? Nö. Er ist in einem Lernprozess. Es ist mein Job dafür zu sorgen, dass er sich einermaßen anständig ernährt. Und es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass mich andere Menschen mit Respekt behandeln. Sonst macht es ja keiner.
Werfen Sie den Begriff von „Schuld“ in den Müll. Nehmen Sie sich stattdessen die Verantwortung. Wir sind *alle* dafür verantwortlich, wie es in unserem Land aussieht. Ob das Projekt vorwärts kommt. Wie ordentlich die Wohnung ist. Wenn ich statt – der zugegebenermaßen sehr erleichternden Maßnahme des – „Du bist Schuld!“ mit der Bewertung aufhöre, sondern zum: Was kann ich jetzt tun, damit die Situation für mich angenehmer wird? Dann kann sich tatsächlich etwas zu meinen Gunsten ändern. Dann kann es aber sein, dass ich ein Gefühl wahrnehme, dass ich mit dem „Du bist Schuld“ überdecken wollte. Wenn der andere Schuld ist, muss ich nichts tun. Ich habe nichts falsch gemacht. Ich bin raus aus der Nummer.
„Raus aus der Nummer“ fühlt sich zwar im ersten Schritt gut an. Aber wird sich etwas ändern? Nein. Ich wahre die Balance. Aber ich bin hilflos. Eine Lösung bekomme ich mit dem Üben des Wahrnehmens: Aha! Ich drücke mich gerade. Stattdessen: Aha – das ist eine unangehme Situation. Wer auch immer daran Schuld ist (ein Teil von Ihnen wird partout die Schuld suchen wollen) – darum kümmere ich mich jetzt mal nicht – ich beruhige mich etwas. Und dann überlegt ich, was ich *für mich* am besten tun kann, um die Situation zu verbessern. Nicht vergessen: Ich kann immer etwas tun. Aber nur: Wenn ich das möchte.
Habe ich zuviel versprochen? Das war jetzt kein so angenehmes Thema, oder? Ich wette mit Ihnen, dieser Artikel ist einer derjenigen, die Sie am schnellsten vergessen. Sollten Sie ihn tatsächlich zu Ende gelesen haben. Und ein Teil von Ihnen wird mir nicht glauben. Trotzdem lade ich Sie herzlich dazu ein, aus dem „xy ist Schuld“ auszusteigen und Bewertungen ab und zu in den Schrank zu räumen (und abzusperren) und stattdessen davon auszugehen: Hey – vielleicht kann ich ja – tatsächlich … ?
Im nächsten Teil kommen wir endlich zur Lösung – wie befreie ich mich aus dem ganzen Schlamassel, der in Teil 1-4 beschrieben ist.
05 Jun2018
Written by Silke. Posted in Leben gestalten, Newsletter, Selbstliebe
Zusammenfassung Vortrag „Das Leben in die eigene Hand nehmen“ – Teil 3
Dies ist der dritte Teil einer Zusammenfassung des Vortrags am Gasteig: „Das Leben in die eigene Hand nehmen – Martin E. Seligman und das Konzept der erlernten Hilflosigkeit“. Im letzten Teil ging es um einen Negativ-Kreislauf, der ausgelöst wird, wenn ich schlimme Erfahrungen mache. (Hier finden Sie Teil 1). Wenn ein Erlebnis zu unangenehm ist, um es auszuhalten, spalte ich einen Teil von mir ab und es entsteht ein sich selbst verstärkendes Muster der Hilflosigkeit. Ich kann keine Energie mehr aus mir selber schöpfen – ich empfinde ein Gefühl der inneren Leere. Um dies zu füllen, suchen wir uns Ersatzbefriedigungen. Diese führen nicht zu nachhaltiger Freude, sondern nur zu einem kurzen Trost oder einem kurzen Energieschub (ein „Hoch“), der gefolgt ist von einem Tief. Das Tief aktiviert erneut das Hilflosigkeitsmuster und der Kreislauf beginnt von Neuem.
Im Beitrag heute geht es um einige spezifische Ersatzbefriedigungen. Sie sind auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen. Aber ihr Kern umfasst genau das, was eine Ersatzbefriedigung ausmacht: Eine Ablenkung vom eigentlichen Schmerz, den ich nicht spüren möchte, weil er in der Vergangenheit so schrecklich war.
Ich möchte vier Beispiele von Ersatzbefriedigungen besprechen, die eng mit dem Negativ-Kreislauf und dem Muster der Hilflosigkeit/der Opferrolle verbunden sind. Alle vier helfen uns als Krücke – sind ein Überlebensmechanismus. Aber sie hindern uns daran, das Problem an der Quelle zu lösen.
1. Machtspiele
2. Drama
3. Schuldgefühle
4. Verantwortung ablehnen
Machtspiele sind allgegenwärtig. Sie reichen vom harmlosen Streit bis zu sexuellem Missbrauch, Folter und Gehirnwäsche. Ein sehr aktuelles Beispiel für Machtspiele ist Populismus – das emotionale Manipulieren von ganzen Bevölkerungsgruppen.
In einem Machtspiel geht es in der Essenz eigentlich nicht um Macht. Wer Macht einsetzt, hat immer nur ein Ziel: Energie gewinnen – ein kurzes Hoch erleben – sich gut fühlen. Wie bei allen Ersatzbefriedigungen fehlt die Fähigkeit, Freude und nachhaltige Zufriedenheit und Wertschätzung aus sich selbst zu schöpfen und zu erleben (für einen kurze Phase oder dauerhaft). Wenn ich überzeugt bin, nichts wert zu sein, unsicher bin, mich schlecht fühle oder eine emotionale Verletzung mit mir herumtrage, dann greife ich zur Abwertung von anderen, um mich kurz besser zu fühlen. Die alltäglichen Formen erleben wir jeden Tag: Streit mit verbalen Attacken, emotionale Manipulation („wenn Du das nicht machst, ist Mama ganz ganz traurig“), Jammern, Verführen, das Nähe-Distanz-Spiel, jemanden zutexten.
Machtspiele werden manchmal ganz bewusst eingesetzt. Aber in den meisten Fällen ist weder Anwender noch Opfer bewusst, was geschieht. Wir lernen diese Form der Ersatzbefriedigung während wir aufwachsen und setzen sie ein, wenn es uns schlecht geht (oder der Energie-Tank leer ist).
Es ist wie eine Art „Spiel“, d.h. ein Interaktionsmuster zwischen „Täter“ und „Opfer“ (in Anführungszeichen, weil wir die Rollen wechseln können), das bestimmten Regeln folgt. Wir wechseln uns gegenseitig ab: Der Chef hat einen schlechten Tag und kanzelt einen Mitarbeiter ab. Dieser fühlt sich mies und geht mit dem miesen Gefühl nach Hause. Seine Partnerin bekommt die schlechte Laune ab und verliert ihrerseits Energie. Ihr eigenes Muster der Hilflosigkeit wird getriggert und statt am nächsten Morgen ruhig und bestimmt auf die rebellische Tochter zu reagieren, verliert sie die Geduld und schreit diese an. Raten Sie mal, wie es auf dem Pausenhof weitergeht.
Wenn ich ausgeglichen bin und genug Kraft habe, „bei mir“ zu bleiben, dann kann ich einen oder mehrere Vorfälle von „Energieraub“ (blöd angeredet werden, spitze Bemerkungen kassieren, angeschrien werden, von einem Kollegen zugequatscht werden oder ähnliches) aushalten, ohne selbst getriggert zu werden. Aber wenn ich keine gute Basis habe (der Wertschätzung und des liebevollen Umgangs mit mir selbst), wenn ich nicht gelernt habe, mich zu schützen oder einfach nur einen schlechten Tag habe: Dann wird mein eigenes Hilflosigkeitsmuster getriggert. Jeder von uns hat seinen „Lieblings-“ Ersatzbefriedigungen (zu viel Schokolade… Fernsehen ohne wirkliche Freude… mehr Gläser Wein als mir gut tut …) – aber jeder von uns greift auch ab und zu zu einem Machtspiel.
Wenn Sie das Muster nicht nur im Außen erkennen, sondern auch bei sich selbst, dann ist es leichter, aus dem Kreislauf auszusteigen. Wenn Sie sich nämlich Vorwürfe machen, sind Sie besonders empfänglich für die Machtspiele anderer.
Wir wechseln uns also ab – mit einem Muster, das überweigend unbewusst ist. Wir stecken uns gegenseitig an. Es wie ein Virus – kein biologischer, sondern ein „Bewusstseins-Virus“. Am besten verständlich ist dieses „Anstecken im Geist“ mit dem Beispiel eines Kettenbriefes. Haben Sie schon einmal einen bekommen? („WARNUNG! Weiterlesen! Oder du wirst sterben, selbst wenn du nur das Wort Warnung betrachtest. …“). Selbst wenn ich ein vernünftiger Mensch bin und absolut nicht abergläubisch, ist es sehr schwer, sich einer solchen Nachricht zu entziehen. Auch wenn ich widerstehe und die Nachricht (früher ein Brief, heute eine SMS oder What’s App) nicht weiterschicke, spukt sie mir in den allermeisten Fällen noch eine Weile im Kopf herum = mein Geist/Bewusstsein/Verstand wurde infiziert, wie von einem Virus.
Für alle Machtspiele gilt: Sowohl Opfer als auch Täter „stecken fest“ (in einem Muster). Beide haben das gleiche Ziel (im Ausagieren des Musters): Die ursprüngliche Verletzung nicht fühlen müssen. Energie bekommen, um die innere Leere zu füllen. Jeder Täter hat bestimmte Formen des Machtspiels und sucht sich passende Partner aus. Diese laufen mit einer Art „unsichtbarem T-Shirt“ herum – d.h. eine bestimmte Art von Verletzung, die sie zu einem besonders guten Opfer für bestimmte Arten von Machtspielen macht. Die Täter haben eine gute Nase für ihre passenden „unsichtbaren T-Shirts“ und suchen sich zielgenau passende Opfer aus. In der Firma werden immer die gleichen Mitarbeiter gemobbed oder von einem bestimmten Chef geduckt. Der fiese Lehrer sucht sich nur bestimmte Schüler zum Schikanieren aus. Auf dem Pausenhof sind immer die gleichen Kinder die Ziele (wobei es unterschiedliche Zielscheiben gibt für körperliche Gewalt, für emotionale Manipulation und für verbale Gewalt). Erleben Sie immer wieder das Gleiche? Unter Umständen ist es so ein „unsichtbares T-Shirt“.
Das Problem (für mich als Opfer): Fast alle meine bisherigen Verteidigungsstrategien sind nicht hilfreich und halten mich im Muster fest. Verdrängen macht das Problem unbewusst und hindert mich an einer Lösung. Weglaufen ist das gleiche wie Widerstand – ich bin immer noch im Muster. Täter gewinnen im Übrigen Energie von einem Opfer, das davonläuft. Auch im Weglaufen leide ich noch unter dem Muster, unter dem Machtspiel. Schuldzuweisungen lassen mich für einen kurzen Moment besser fühlen – aber nicht dauerhaft. „Du bist Schuld – ich kann nichts tun“ stärkt das Muster von Täter = stark, Opfer = schwach. Ich fühle mich immer noch schlecht und werde das Muster nicht los. Ebenfalls Ärger oder andere heftige Gefühle in Bezug auf das „Spiel“. Alle diese Reaktionen sind verständlich. Aber sie lösen nichts – ich drehe mich im Kreis. Mitmachen oder Widerstand – beides verstärkt das Muster.
Die Lösung ist nicht das Bekämpfen des Musters. Im Kämpfen stecke ich nach wie vor drinnen und validiere es. Die Lösung besteht im Erkennen, was vor sich geht. Im Heilen des „unsichtbaren T-Shirts“ (der zugrundeliegenden Verletzung). Im Stärken meines Selbst, meines liebevollen Umgangs mit mir selbst, so dass ich weniger getriggert werde, weil ich Freude und Selbst-Mitgefühl aus mir selbst schöpfen kann. Ich muss das Muster und das Machtspiel nicht bekämpfen. Das Muster hört auf zu existieren – wenn meine Verletzung geheilt ist (und dafür brauche ich den Täter nicht – nur mich selbst – und ev. jemanden, der mich begleitet). Und ein Machtspiel kann nur funktionieren, wenn ich mitspiele.
Ein Wort noch zu Populismus: Kommunikation, die nicht auf rationalen Argumenten beruht, auf einem offenen Austausch zwischen Menschen auf Augenhöhe, auf dem konstruktiven Suchen nach Lösungen oder dem wertschätzenden Austausch ist immer ein Machtspiel. Redner, die emotional manipulieren, die auf Argumente keine rationale Antwort geben, sondern ablenken (oft wiederum mit Triggern von Emotionen), die abwerten (oft nur bestimmte Gruppen), die unvorhersagbar sind in ihrer Reaktion (ein Teil im Übrigen auch der Gehirnwäsche), die Aufmerksamkeit suchen und Ersatzbefriedigungen anbieten für die unsichtbaren T-Shirts ihrer Zuhörer: Das sind typische Beispiele für selbst-unsichere oder anderweitig verletzte Personen, die den eigenen Schmerz überdecken, indem sie im großen Stil von der Energie ihrer Zuhörer leben, von der Aufmerksamkeit der Medien, vom Abwerten der „Gegner“ und dem trügerischen Glücksgefühl, Einfluss auf andere zu haben.
Ein weiteres Beispiel für eine Ersatzbefriedigung ist „Drama“. Mit Drama sind starke Gefühle gemeint, die ich empfinde oder nach denen ich handele. Sie saugen mich ein, überrollen mich und mir scheint keine Wahl zu bleiben, als sie zu durchleben. Letztlich ist Drama jedoch eher eine Flucht vor dem Spüren als tatsächliches Wahrnehmen. Ich übersteigere ein Gefühl oder erlaube mir, mich in ein Gefühl hineinzusteigern, um etwas anderes (um das es eigentlich geht) nicht fühlen zu müssen. Wie ein Bühnenmagier lenke ich mich mit Aufregung ab – und kann den eigentlichen Schmerz unsichtbar lassen. Sie erkennen Drama daran, dass Sie stärker reagieren als der Anlass es scheinbar rechtfertigt, dass es immer wieder ähnliche Situationen sind, die Sie triggern, dass es einen Sog gibt, der Sie hineinzieht, dass es schwer ist, damit aufzuhören, dass ein Teil von Ihnen das Drama möchte/genießt/etwas daraus zieht, dass andere verwundert über den Ausbruch sind oder besorgt zu Hilfe eilen, um Sie zu trösten oder zu beruhigen und/oder dass Sie sich anschließend leer, erschöpft, verwirrt oder beschämt fühlen. Wenn Sie genau hinsehen, können Sie wahrnehmen, dass Sie im Drama nicht wirklich fühlen. Es ist zwar alles sehr theatralisch und scheinbar fliegen die Fetzen oder die Welt bricht zusammen. Aber es geht nicht wirklich tief, es fehlt die Substanz. Sie lenken sich ab. Wovor? Trauen Sie sich, nach einem Gefühlsausbruch ein paarmal bewusst zu atmen und zu spüren: Was war da? Vorher? Während? Nachher? Wenn Sie dies regelmäßig tun, werden Sie anfangen zu ahnen, dass da noch etwas sitzt. Wenn Sie den eigentlichen Auslöser und das eigentliche Gefühl zu spüren bekommen, können Sie anfangen, den Schmerz zu heilen.
Als Übung können Sie sich beim Zeitung lesen oder Nachrichten hören beobachten. An der einen oder anderen Stelle geht ev. der Puls nach oben und Sie beginnen zu schimpfen oder haben den Impuls dazu. Dieser Ärger ist meistens Drama. Was hat Sie in der Sendung oder dem Artikel wirklich berührt? Wo sind sie berührt worden? Ist da vielleicht ein Schmerz oder eine Angst?
Wenn Sie Drama bei sich selbt nicht erkennen können, dann versuchen Sie, es bei anderen zu sehen. Sobald Sie das Muster erkennen können: Da regt sich jemand (künstlich) auf – möchte er/sie sich von etwas ablenken? Dann wird es leichter sein, den Blick nach Innen zu richten und es zu erkennen, wenn ich es selbst tue (wir machen es nämlich alle – eine Erstatzbefriedigung ist ein ganz natürliches Mittel, um mich selbst zu schützen).
Das nächste Beispiel für eine Ersatzbefriedigung sind Schuldgefühle. Das klingt vielleicht etwas seltsam, aber auch Schuldgefühle sind im Grunde ein Ablenkung. Es ist ein ganz natürlicher Reflex, wenn mir etwas Unangenehmes oder Schlimmes passiert: „Ich bin Schuld. Hätte ich es doch besser gemacht. Wenn ich mich genug schäme, kann ich es wieder gut machen.“ Das passiert ganz oft selbst dann (vielleicht sogar vor allem dann), wenn ich gar nichts falsch gemacht habe, sondern wenn mir jemand anders etwas getan hat. Schuld und Scham ist ein fester Bestandteil des Negativ-Kreislaufs und des Opferbewusstseins. Es ist eine Art Versteck, in das ich mich verkriechen kann. Es hilft offenbar, das furchtbare ursprüngliche Gefühl nicht aushalten zu müssen (zu dem meistens Hilflosigkeit gehört). Ich kann es besser machen. Dann passiert nichts Schlimmes. Ich werte mich ab und mache mich kleiner. Dann muss ich nicht stark sein und etwas an der Situation ändern. Wenn ich nämlich stark bin, müsste ich das eigentliche Gefühl konfrontieren – Angst, Hilflosigkeit, Schmerz, Überwältigung. Wenn ein Gefühl zu stark ist und ich es nicht konfrontieren kann (weil es zu überwältigend ist), dann ist es leichter, mich zu schämen und mich klein zu machen.
Schuld und Scham entstehen im ersten Schritt als Folge von Manipulation im Außen. Jemand gibt mir zu verstehen, dass es etwas gibt, für das ich mich schämen müsste. Scham bedeutet in der Essenz: Du bist falsch. Nicht: Du hast etwas falsch gemacht. Die komplette Person ist falsch. Daher kommt das Gefühl, im Erdboden versinken zu müssen. Mir wird zu verstehen gegeben: Du hast etwas so schlimmes getan, dass wir einen Teil Deiner Person abschneiden müssen. Das geht natürlich nicht. Der Teil gehört zu mir. Ich betrachte mich dann insgesamt als unwert und unwürdig. Ich übernehme die Suggestion aus dem Außen, weil das leichter ist, als gegen den Manipulierer aufzubegehren. Aufbegehren hätte nämlich zur Folge, dass ich aus der Gruppe ausgeschlossen werde oder die Liebe/Achtung/Aufmerksamkeit des Manipulierers verliere. Scham ist unser wirksamstes Mittel, um andere zu kontrollieren – um eine Gruppe zu kontrollieren. Zuwiderhandlung führt zum Ausschluß. In archaischen Zeiten mag dies eine notwendige Form der sozialen Kontrolle gewesen sein. Inzwischen ist es eine Form von psychischem Gift. Wir verwenden es alle, es ist zu tief im menschlichen Bewusstsein verwurzelt als gute Methode, um jemand anderen (meist sozial tiefer gestellten) dazu zu bringen, etwas zu tun, was mir wichtig ist.
Jede Form der Abwertung führt zu Scham (außer der andere hat ein sehr gutes Selbstwertgefühl). Scham führt zu Energieverlust und einer neuen Aktivierung des Negativ-Kreislaufs. Sie schwächt mich und festigt mein Opferbewusstsein. Sie ist nie sinnvoll oder nützlich! Sie generiert mehr von dem unerwünschten Verhalten. Wenn ich geschwächt bin, kann ich nicht wie ein reifer Erwachsener handeln. Ich rutsche wieder in unkonstruktive Verhaltensweisen – schäme mich wieder – und der Kreislauf geht von vorne los.
Wenn ich nach einer unerwünschten Handlung – ohne mich schämen zu müssen – gelassen reflektieren könnte: Oh weh (ev. mit Trauer oder Bedauern oder Schmerz) – das war keine schöne Erfahrung – das war nicht etwas, was ich möchte – das mache ich beim nächsten Mal anders und das erlebte Negative durch-trauern könnte (statt mich zu schämen) und anschließend eine Wahl treffe, wie ich anders handeln könnte – dann würde ich keinen neuen Negativ-Kreislauf aktivieren. Bewusstheit und selbst-mitfühlender Umgang mit der Trauer (über das was schief gegangen ist) und verantwortungsvoller Umgang mit den anderen, die ev. gelitten haben: Das führt zu Wachstum. Mich selber abwerten (oder abgewertet werden) führt immer nur zu noch mehr Leid.
Wenn Schuld und Scham also weder nützlich noch hilfreich ist: Warum nicht einfach damit aufhören? Versuchen Sie es. Sie werden feststellen, es ist wie eine Sucht. Ein Teil von mir scheint sich abwerten zu wollen. Sobald Sie so etwas entdecken: Ein negatives Gefühl oder eine Handlung, die Ihnen letztlich nicht gut tut – in dem Moment haben Sie eine Ersatzbefriedigung entdeckt (wie bei einem Machtspiel oder bei Drama). Ein Teil von mir möchte sich schämen. Wenn ich mich klein mache, muss ich nicht handeln. Und ich muss nicht spüren, was unter der Scham liegt (ein noch schrecklicheres Gefühl).
Um aus der Falle hinauszukommen, sind mehrere Dinge notwendig. Die Scham als etwas Nicht-Nützliches erkennen. Merken, wenn ich anfange, mich zu schämen. Mir zu erlauben, statt der Scham nachzugeben, meinen Atem zu beobachten und Mitgefühl mit mir selbst zu empfinden. Selbst-Mitgefühl ist ein Teil von mir-selbst-verzeihen-können (obwohl es eigentlich nichts zu verzeihen gibt). Das Lernen, mich so anzunehmen, wie ich bin. Mit allen Fehlern und Schwächen (die eigentlich keine sind – als Mensch gehört es schlicht dazu, Fehler zu machen – z.T. auch sehr tragische und weitreichende – selbst der schlimmste „Fehler“ macht mich nicht weniger wertvoll). Es gehört mich zu dem Schwersten, was wir lernen können.
Aber wenn wir das schaffen: Die Scham in uns zu überwinden, uns so anzunehmen, wie wir sind und Fehlern bewusst, mit Mitgefühl und Verantwortung zu begegnen: Dann sind wir einen Riesen-Schritt weiter zu einer besseren Welt. Für den Anfang lade ich Sie ein: Erlauben Sie sich – zumindest ab und zu einmal – den revolutionären Gedanken, dass Schuld und Scham absolut überflüssig sind und getrost vom Erdball (und aus ihren Gefühlen) verschwinden dürfen. Das ist gar nicht so leicht. Aber es lohnt sich.
Im nächsten Teil geht es weiter mit dem Thema „Verantwortung ablehnen“, das eng verknüpft mit dem Thema Schuld und Scham ist.
05 Jun2018
Written by Silke. Posted in Leben gestalten, Newsletter, Selbstliebe
Zusammenfassung Vortrag „Das Leben in die eigene Hand nehmen“ – Teil 2
Dies ist der zweite Teil einer Zusammenfassung des Vortrags am Gasteig: „Das Leben in die eigene Hand nehmen – Martin E. Seligman und das Konzept der erlernten Hilflosigkeit“. Im letzten Teil haben wir uns mit dem Teufelskreis der Selbst-Sabotage beschäftigt, der entstehen kann, wenn ich ein Trauma, einen Schock oder ein unangenehmes Ereignis erlebe.
Ein Schock oder ein Trauma beinhaltet, dass ich eine emotionale Überforderung erfahre. Auch ein anderes unangenehmes Erlebnis – das nicht zu einem Schock oder Trauma führt – kann eine emotionale Überforderung auslösen und ähnliche (wenn auch weniger einschneidende) Folgen haben. Ich schütze mich gegen die Überforderung, oft erfolgreich – allerdings mit Folgen (Nebenwirkungen) für die Zukunft. Dies ist das Thema heute.
Jeder von uns besitzt etwas, das ich den Kern, das Selbst, die innere Mitte, die Essenz oder den „reifen Erwachsenen“ nenne. Es ist der Teil, der fähig ist, bewusst darüber zu reflektieren, dass ich gerade bewusst bin. Ich besitze weitere Anteile, die einen geringenren Bewusstseinsgrad haben. Das reicht von fast gar nicht bewusst – z.B. alle meine Automatismen oder stark überlernten Gewohnheiten, die ganz von alleine ablaufen (z.B. Radfahren, meine Routine beim Duschen). Bis zu „halb bewusst“ – ich bin schon irgendwie „bei mir“, aber ich verfüge nicht über alle meine Ressourcen. Durch den Alltag bewege ich mich meistens im „halb bewussten“ Zustand: Ich erledige alles, was ich erledigen muss. Zum Teil sehr effektiv, mitunter aber auch weniger effektiv.
Der „halb bewusste“ Zustand äußert sich dadurch, dass ich oft nicht wirklich wähle, was ich als nächstes tue, sondern ich auf das reagiere, was im Außen passiert oder was in meinen Gedanken gerade so abläuft oder dass ich handele, weil ich immer so handele (Gewohnheit). Wenn Störungen auftreten, reagiere ich manchmal effektiv und elegant – aber sehr oft nicht mit der besten Lösung (die mir gerade nicht einfällt). Ich merke oft nicht, was ich gerade empfinde (tut mir das gut, was ich tue? Brauche ich eine Pause? Macht das Sinn, was ich tue? Entspricht es meinen Prioritäten?). Neben diesem – sehr üblichen und normalen – halb bewussten Zustand gibt es außerdem noch Anteile von mir, die „feststecken“. Bevor wir uns diese ansehen, möchte ich noch ein paar Worte zum „Kern“ sagen oder zu meinem „Selbst“.
Wenn Sie bereits Achtsamkeitsübungen machen, dann sind Sie während der Übung (meistens) in Ihrem Selbst. Sie sind sich voll bewusst – was fühle ich gerade? Was denke ich (ohne dass ich in das Denken hineingezogen werde)? Was geht in mir vor und was um mich herum (ohne dass ich hineingezogen werde)? Ich bin in gutem Kontakt mit allen Anteilen von mir und habe einen guten Zugang sowohl zu meinem Verstand, als auch zu meiner Intuition, meinem Fühlen, inneren Wissen und allem, was ich sonst noch an Ressourcen habe (auch wenn ich wenig davon gerade verwende – ich beobachte einfach nur). In diesem Zustand kann ich gute Entscheidungen treffen – ich bin nicht verwickelt (emotional, in Gedanken, in Stress, mit anderen).
Oft fühlt sich das gut an – ich fühle mich ausbalanciert, wohl, sicher, im Vertrauen mit mir selbst. Sollte Wohlbefinden fehlen, bin ich mir zumindest bewusst, was gerade vor sich geht. Ich spüre, dass ich nervös bin – aber die Nervosität ist nicht der „Chef“. Ich bin nicht voll in die Nervosität verwickelt – mein Selbst beobachtet sozusagen den Anteil von mir, der nervös ist. Im Kern ist mein Selbst meine Fähigkeit, mir gewahrzuwerden, dass „ich bin“ – dass ich existiere.
Jeder von uns kann dies und erreicht diesen Zustand, indem er bewusst über sich reflektiert (etwas, das Kinder im Laufe ihres Reifungsprozesses irgendwann lernen oder entdecken). In diesem Moment haben Sie Zugang zu Ihrem Selbst und sind sich – zumindest ab und zu – voll bewusst. Wenn Sie länger Achtsamkeitsübungen praktizieren, dann realisieren Sie irgendwann: Wow – ich existiere!!! Ich spüre, dass „ich bin“ – ich kann mich selbst beim Beobachten beobachten und realisiere, dass ich tatsächlich existiere. Jeder von uns weiß das. Aber es durch und durch zu realisieren, ist noch einmal ein besonderes Erlebnis und wird mitunter als „Erwachen“ bezeichnet. Im Alltag verliere ich diesen sehr bewussten Zustand oft wieder – ich rutsche in Gewohnheiten und Muster und bin durch Verwicklungen nur halb bewusst und nicht voll handlungsfähig.
In der Artikelserie über Gewohnheiten (sieh auch den nächsten Artikel in diesem Newsletter) geht es um all die Dinge, die mich aus meinem Selbst – meiner Souveränität – meinem voll bewussten Zustand „hinauskicken“. In dem Artikel, den Sie gerade lesen, geht es um einen bestimmten Mechanismus, der einen besonders stark „feststeckenden“ Anteil meiner Selbst erzeugt.
Jedes unangenehme Erlebnis, egal ob es ein leichtes (unangenehmes Gespräch mit dem Chef z.B.) oder schweres ist (Unfall, Verlust, Verletzung z.B.) führt dazu, dass ich einen Anteil meiner Selbst „abschneide“. Wenn ich etwas nicht spüren möchte oder wenn es emotional überwältigend ist, dann schiebe ich es weg – ich verdränge es. Wir sind alle sehr kreativ und wenn wir uns „die Geschichte erzählen“: Dies ist nicht wirklich passiert oder „dies ist ganz anders“ (als in der Realität) „passiert“ dann glauben wir uns das auch. Wir erschaffen unsere Realität. Wenn Not am Mann ist, dann ändern wir die Realität in unserem Geist. Alles Schlimme, Unschöne, Belastende wird fein säuberlich in eine Kiste verpackt und versteckt. Dann stellen wir einen Stacheldrahtzaun darum auf und ein großes Schild: Hier nicht hinsehen oder hinspüren – das ist gefährlich. Es ist ein wunderbarer Selbst-Schutz-Mechanismus, ohne den wir nicht existieren könnten.
Ein Beispiel für solch einen abgeschnittener Anteil (Aspekt) von mir selbst ist das Muster der erlernten Hilflosigkeit (oder Opferrolle), das ich zu Beginn (Teil 1) dieser Zusammenfassung beschrieben habe. Neben dem Verdrängen des ursprünglichen Erlebnisses kommt die Überzeugung hinzu: Ich kann hier nichts tun (ich bin hilflos). Diese Überzeugung schützt mich vor dem Spüren des Auslösers (der überwältigend oder zumindest sehr unangenehm war). Ich muss keine Verantwortung übernehmen – ich kann ja nichts tun. Verantwortung würde bedeuten, dass ich die ursprüngliche schlimme Erfahrung noch einmal machen würde (das Erleben der Hilflosigkeit). Die Überzeugung ist so stark, dass meine kognitiven Fähigkeit eingeschränkt sind (wenn ich in der Opferrolle feststecke) und dass ich kaum Energie habe, um etwas zu tun. Wenn ich mich klein mache und ausharre, dann geht es vielleicht vorbei und ich tue zumindest nichts, um die Situation zu verschlechtern oder (Gott bewahre) dieses entsetzliche Gefühl noch einmal spüren zu müssen, welches der Auslöser war.
Wichtig an dieser Stelle ist: Es ist nur ein Teil von mir – das eigentliche Selbst ist nach wie vor verfügbar. Allerdings kann es bei starker Traumatisierung unsichtbar sein (daher brauchen stark betroffene Personen Begleitung und können sich nicht – oder nur sehr schwer – selbst helfen). Und: Es ist ein Schutzmechanismus. Mich selbst dafür zu kritisieren, dass ich einen Hilflosigkeits- oder Opferaspekt erschaffen habe, ist nicht angebracht. Ich habe mir geholfen, so gut es eben geht.
Um den Selbstsabotage-Mechanismus zu verstehen, über den wir in dieser Artikelserie sprechen, ist es wichtig zu verstehen:
- Ich habe einen Kern – „das Selbst“ – das Zugang zu all meinen kognitiven, kreativen und energetischen Ressourcen hat. Wenn ich mir meiner selbst bewusst bin – dann bin ich mit diesem Kern verbunden.
- Ich habe außerdem Anteile – Aspekte – die einen geringeren Bewusstseingrad haben (d.h. nicht vollkommen frei handeln können), z.B. eine Gewohnheit.
- Durch ein Trauma oder ein unangenehmes Erlebnis kann ein Anteil von mir entstehen, der „abgeschnitten“ ist – es ist mir nicht bewusst, dass ich diesen Anteil habe, aber er beeinflusst mein Verhalten.
- Es gibt verschiedene solche Anteile. Ein besonders einflussreicher ist die „Opferrolle“ oder das Phänomen der „erlernten Hilflosigkeit“.
- Dieses Muster ist ein Überlebensmechanismus. Durch das Abschneiden/Verdrängen und Umdeuten meiner Realität kann ich mit schlimmen Erfahrungen umgehen (die ich sonst nicht bewältigen könnte).
Eine bestimmte Art von so einem verletzten, abgeschnittenen Aspekt ist die „erlernte Hilflosigkeit“, wie sie von Seligmann beschrieben wurde und die „Opferrolle“. Es ist ein Verhaltensmuster, das aktiviert wird, wenn Umstände in meinem Leben mich an das auslösende Ereignis erinnern. Das kann ein Schulreferat gewesen sein, in dem ein Lehrer mich massiv und unfair kritisert hat, emotionaler Mißbrauch durch ein Elternteil oder ein anderes schlimmes Erlebnis, in dem ich mich klein und hilflos gefühlt habe. Die Erinnerung an das Erlebte ist so unangenehm, dass ich die zugehörigen Gefühle nicht spüren möchte. Mein Geist versucht entsprechend, das Erlebte und das Muster möglichst unsichtbar zu machen. Es ist schwer, mir bewusst zu machen, was vor sich geht – dass es das Muster der Opferrolle gibt und wann es aktiviert wird. Das Unisichtbar-Machen ist Teil des Überlebensmechanismus. Die Opferrolle hat Folgen, die mich im Leben beeinträchtigen. Allerdings ist sie ja ein Schutzmechanismus und als dieser schützt sie sich selber. Da ich das Muster ursprünglich erfunden oder übernommen habe, um nicht von unerträglichen Gefühlen überwältigt zu werden, sorge ich – unbewusst – dafür, dass sich das Muster selbst erhält – meist ohne, dass mir dies bewusst ist.
Das Haupt-Problem ist, dass die Opferrolle mich von meiner inneren Quelle trennt. Meine innere Quelle ist das Sprudeln meiner Lebens-Energie und meiner kreativen Energie. Bei kleinen Kindern können Sie diese innere Quelle gut beobachten. Die meisten kleinen Kinder sind in ihrer Aktivität und ihren Ideen nicht zu stoppen. Mit Staunen beobachten wir ihre Lebendigkeit. Eigentlich ist dies unser Normal-Zustand. Allerdings verursacht jedes unangenehme Erlebnis (ab einem gewissen Grad) eine kleinere oder größere Abspaltung eines Teils meiner Selbst – einen verletzten Aspekt. Jede dieser Abspaltungen wirkt wie ein kleiner oder großer Stein, der den Zugang zu meiner inneren Quelle verdeckt. Einige von uns sprudeln nur ein bisschen weniger als wir klein waren. Andere von uns erstarren in einer Depression. Das Gute: Die innere Quelle ist nicht weg – sie ist „nur“ verdeckt. Ich kann den Zugang wieder freilegen.
Wenn der Zugang zu meiner inneren Quelle verschüttet ist, entsteht das Gefühl der inneren Leere. Diese kann sich ausdrücken durch eine kreative Blockade, durch kreisende Gedanken, fehlendes Vertrauen in mich, andere Menschen oder das Leben an sich und fehlende Lebensfreude. Wenn ich stark betroffen bin, bin ich fast täglich mit diesem dunklen, schweren, leeren Gefühl konfrontiert und davon blockiert. Die meisten von uns, die leichter betroffen sind, erleben es ab und zu – als schlechten Tag oder einen Abend, an dem sie sich zu nichts aufraffen können oder ab und zu einer endlosen Gedankenschleife, die mir den Schlaf raubt.
Das Gefühl dieser inneren Leere ist furchtbar. Sie ist auf Dauer nicht auszuhalten – daher suchen wir uns etwas, um sie nicht so stark spüren zu müssen. Wir greifen zu einer Ersatzbefriedigung. Ich meine damit alles, was das Gefühl der inneren Leere kurzfristig überdeckt, mich aber nicht nachhaltig mit Freude erfüllt – mich nicht wirklich nährt und nicht wirklicht gut für mich ist. Es beginnt mit dem starken Gefühl, etwas zu brauchen – einen Trost oder einen „Kick“. Letzlich giere ich nach Energie – um Grunde nach Lebensfreude und Lebensenergie. Da mein Zugang (zumindest in diesem Moment, dieser Phase) verschlossen ist, beginne ich im Außen zu suchen.
Häufige Ersatzbefriedigungen sind Essen, vor allem Kohlehydrate oder Süßes, Alkohol, Aufmerksamkeit von anderen, Fernsehen oder auch Dinge, die mir einen Energieschub geben wie schnelles Autofahren oder sexuelle Abenteuer. Auch Arbeit (und das Heischen nach Aufmerksamkeit vom Chef) oder exzessiver Sport können zur Ersatzbefriedigung werden. Allen solchen Trostpflastern oder Energiespendern ist gemeinsam, dass sie nur ein relativ kurzes „Hoch“ haben – ich fühle mich für eine kurze Zeit besser – geborgen oder voller Energie. Danach gibt es ein „Tief“. Ich fühle mich schlechter als vorher. Zum Teil weil die Wirkung nachlässt (sie ist nicht nachhaltig – es ist nicht wirklich das, was mir fehlt) und zum Teil, weil Schuld und Scham dazukommt. Mir ist schlecht, weil ich zu viel gegessen habe, ich sehe, dass meine Gesundheit leidet, ich spüre, dass ich nicht wirklich Kontakt zu anderen habe und ich empfinde oft Scham über das, was ich getan habe. Dieses „Tief“ verstärkt die Opferrolle („ich kann nichts tun“) und die innere Leere. Der Kreislauf beginnt von Neuem. Ersatzbefriedungen können Drogen sein. Aber auch wenn sie es nicht sind, wirken sie prinzipiell wie eine: Ich fühle mich abhängig, weil ich nicht weiß, wie ich anders als mit der Ersatzbefriedigung das schreckliche Gefühl der Leere, die Energie- und Sinnlosigkeit überdecken soll.
Das Fatale – aber auch der Schlüssel zur Lösung – ist, dass das Muster, das den Kreislauf auslöst, unsichtbar ist. Von mir selbst abgesegnet, denn die Unsichtbarkeit ist ja ein Schutz. Die Lösung liegt im Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Der Vortrag und dieser Artikel helfen genau an diesem Punkt: Sie können beginnen, Ihre Hilflosigkeits-Muster zu erkennen. Indem diese Schritt für Schritt ans Licht gelangen, können sich die Blockaden – die Steine – die den Zugang zur Quelle versperren, lösen.
Im nächsten Teil besprechen wir einige Formen von Ersatzbefriedigungen noch genauer. Sie machen verständlich, in welcher Form ich mich selbst sabotiere – um mich selbst zu schützen. Sobald ich verstehe, was ich tue, bin ich schon dabei, das Muster aufzulösen.
05 Jun2018
Written by Silke. Posted in Leben gestalten, Newsletter, Selbstliebe
Zusammenfassung Vortrag „Das Leben in die eigene Hand nehmen“ – Teil 1
Der Vortrag am Gasteig „Das Leben in die eigene Hand nehmen – Martin E. Seligman und as Konzept der erlernten Hilflosigkeit“ findet regelmäßig statt. Er vermittelt Grundlagen-Wissen zum Thema Souveränität und einem Selbst-Sabotage-Mechanismus, der einer der Hauptgründe ist, warum so häufig Energie, Freude und Selbst-Wertschätzung im eigenen Leben fehlen.
Einige Hörer haben sich eine Zusammenfassung gewünscht – hier ist sie. Auch für alle, die den Vortrag noch nicht gehört haben, ist der Beitrag interessant, vor allem im Zusammenhang mit der Artikel-Serie zu Gewohnheiten.
Stellen Sie sich vor, Ihr Leben ist ein Auto. Sitzen Sie immer am Steuer? Oder fühlt es sich manchmal so an, als wären Sie nur Beifahrer und am Steuer sitzt jemand anders? Warum kann ich nicht immer selbst-bestimmt handeln und rutsche in Hilflosigkeit oder Selbst-Sabotage?
Ziel des Artikels ist es, ein inneres Muster anzufangen zu erkennen, das dazu führt, dass ich mir „die Zügel aus der Hand nehmen lasse“.
Die Ursache für Selbst-Sabotage, fehlende Energie und fehlende Lebensfreude sind belastende Erfahrungen. Sie erzeugen einen „Negativ-Kreislauf“. Entstanden ist er durch etwas, das ich im Außen erfahre. Anschließend halte ich ihn selbst aufrecht. Er ist meist unbewusst und sehr stabil. Aber es gibt eine Lösung für das Beenden des Kreislaufes.
Zum Verständnis hilfreich sind die Experimente von Seligmann zur „Erlernten Hilflosigkeit“, die er 1967 begonnen hat. Sie sind ethisch bedenklich, aber ich berichte trotzdem von ihnen, weil das Ergebnis einen sehr wichtigen Mechanismus in uns deutlich macht, der für viel Leid verantwortlich ist.
Seligmann führte Lernexperiment mit Hunden durch. Es gab drei Gruppen. Eine Gruppe wurde in einem ersten Durchgang unangenehmen Reizen (kurzen elektrischen Schocks) ausgesetzt, die sie durch Betätigung eines Hebels beenden konnten. Eine zweite Gruppe war denselben Reizen ausgesetzt, konnte sie aber nicht beenden. Eine dritte Gruppe bekam keine Reize.
Die Hunde, die den Hebel betätigen konnten, lernten sehr schnell, den unangenehmen Reiz zu beenden. In einem zweiten Durchgang wurden dann alle drei Gruppen in eine Box gesetzt, die sie durch eine Klappe verlassen konnten. Diesmal bekamen alle drei Gruppen unangenehme Reize dargeboten und alle drei Gruppen konnten die Box durch die Klappe verlassen. Gruppe 1 (die den Reiz im ersten Durchgang hatten beenden können) lernte sehr schnell, die Box durch die Klappe zu verlassen. Die Kontrollgruppe (Gruppe 3), die im ersten Durchgang keine Reize dargeboten bekommen hatte, lernte etwas langsamer, die Box zu verlassen. Und Gruppe 2 – die keine Möglichkeit gehabt hatte, den unangenehmen Reiz abzustellen – verließ zum Großteil die Box gar nicht. Die Hunde legten sich apathisch hin und ließen den Schmerz über sich ergehen. Sie hatten Hilflosigkeit gelernt.
Ähnliche Ergebnisse konnten später mit Menschen gezeigt werden (mit unangenehmen Tönen – in einer sehr ähnlichen Versuchsanordnung). Wenn ich die Erfahrung der Hilflosigkeit mache, dann übertrage ich das ev. auf andere Situationen. Ich verhalte mich hilflos – obwohl ich eigentlich gar nicht hilflos bin. Es kommt zu einem Motivationsverlust (ich versuche es erst gar nicht), zu einer Lernbehinderung (ich lerne langsamer) und zu einem emotionalen Defizit – im schlimmsten Fall zu einer Hilflosigkeitsdepression.
Es entsteht das Denkmuster: „Ich bin das Problem“ – „Das Problem ist allgegenwärtig“ und „Das Problem ist unveränderlich“. Nichts davon ist wahr – aber ein Teil von mir glaubt es. Und wenn ich etwas fest glaube, dann wird es zu meiner Realität.
Aufbauend auf dem Konzept der erlernten Hilflosigkeit möchte ich Ihnen einen Negativ-Kreislauf vorstellen: Ein Verhaltensmuster, das aus belastenden Erfahrungen entsteht und zu zahlreichen Beeinträchtigungen des Alltags führen kann. Wenn ich verstehe, wie dieser Kreislauf entsteht, wie er sich selbst erhält und was sein Zweck ist, kann ich anfangen, dieses Muster in meinem Leben Schritt für Schritt zu beenden.
Was ist also mit diesem „Negativ-Kreislauf“ gemeint? Der Anfang ist immer eine belastende Erfahrung. Die Erfahrung beinhaltet überwältigende, unangenehme Gefühle. Um diese nicht aushalten zu müssen, bzw. um in der Situation nicht zu erstarren, sondern handlungsfähig zu bleiben, verdränge ich die Gefühle. Ich spalte einen Teil von mir ab. Ich schaffe ein neues Muster, die „Opferrolle“, die mir – wie eine Krücke – hilft, mit der überwältigenden Situation umzugehen. Das Problem: Bei der Abspaltung trenne ich auch einen Teil meiner kreativen Energie mit ab. Ich kann keine Energie mehr aus mir selbst schöpfen. Dadurch entsteht eine innere Leere. Weil diese Leere sehr unangenehm ist, versuche ich, sie mit Ersatzbefriedigungen zu füllen. Ersatzbefriedigungen führen nicht zu nachhaltiger Freude. Sie trösten kurz oder geben mir einen kurzen Energieschub. Danach haben sie „Nebenwirkungen“, sie führen zu einem „Loch“, z.B. zu einem schlechten Gewissen. Durch das schlechte Gewissen wird wiederum meine Opferrolle aktiviert und mein Kreisen in einem negativen Muster bestärkt.
Im folgenden werden wir uns jeden einzelnen Teil des Kreislaufs ansehen. Der Beginn liegt wie gesagt bei einer belastenden Erfahrung – einer Verletzung. Dies kann sein: Ein Schock, ein Trauma, Missbrauch oder eine „ererbte“ Verletzung.
Ein Schock ist ein kleiner oder großer Schreck. Die Mutter, die nicht kommt, wenn ich weine, ein scharf bremsendes Auto, ein kleiner Unfall mit Verletzung und ähnliches. Wenn er eintritt, ist es so, als würden wir kurz „einfrieren“ – ein Überlebensmechanismus, um die starken Gefühle nicht aushalten zu müssen, wenn der Schock auftritt. Oft bleibt der Schock über längere Zeit in uns – oft sogar über Jahre. Es ist eine kleine Blockade, an der eine unangenehme Erinnerung sitzt, wie ein kleiner Eisklumpen.
Ein Trauma ist ein großer Schock. Ein Autounfall. Eine starke Verletzung. Ein geliebter Mensch stirbt. Wie beim Schock frieren wir die Gefühle, die im Moment zu stark sind, ein. Oft stellen wir um den „Eisblock“ auch noch innere „Warnschilder“ auf, die uns daran hindern sollen, uns zu erinnern. Wenn wir in die Richtung der Erinnerung spüren, empfinden wir vages Unwohlsein von dem wir nicht wissen, woher es kommt.
An Missbrauch ist ein anderer Mensch beteiligt. Ich verwende den Begriff sehr weit und meine damit, dass absichtlich oder gedankenlos eine körperliche oder seelische Verletzung stattfindet. Ein Mensch missbraucht seine Macht, die er einem anderen gegenüber hat. Anschreien, abwerten, hänseln, auslachen, ignorieren, schlagen und im heftigsten Fall sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung und Folter. Der Missbrauchende bekommt einen kleinen (oder großen) „Kick“, eine Art Hochgefühl. Der Missbrauchte selbst fühlt sich nach solch einer Verletzung ausgelaugt, leer, kalt, beschmutzt oder einfach nur schlecht.
„Vererbte“ Verletzungen: Es ist möglich, dass negative Erfahrungen (wie oben beschrieben) in der Familie „weitergegeben“ werden. Dies geschieht ganz unbewusst. Eltern z.B., die ein Kind verlieren, tragen Trauer in sich. Haben sie noch ein Kind, kann dieses das spüren und versuchen, die Eltern aufzumuntern. Dies kann zu einer emotionalen Belastung beim Kind führen, die genauso wirkt, wie ein Schock oder Trauma, das das Kind selbst erlebt hat. Es gibt Verletzungen, die über Generationen weitergegeben werden.
All diese Erfahrungen haben gemeinsam, dass sie im Moment des Erlebens eine emotionale Überforderung beinhalten. Es ist zu viel – ich muss mich schützen. Wie ich dies tue, beschreibe ich im nächsten Teil der Zusammenfassung.